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www.rhetorik.ch aktuell: (25. Februar, 2002)


PISA Studie und Sprachkompetenz


Die Pisa Studie
Pisa Studie, Grafik von Stefan Schaer, Bern
aus der Zusammenfassung von Urs Moser KBL herausgegeben von BFS und EDK Die PISA Studie (Program for International Student Assessment) hat in der Schweiz viel Staub aufgewirbelt, denn die Studie zeigte, dass es bei Schweizer Schülern im Alter von 15 Jahren im Vergleich mit anderern Länder an Lesekompetenz mangelt. In den Medien wurden Fragen laut, wie:

  • Was ist mit unserer Schule los?
  • Welches sind die Ursachen der mangelnden Lese- und Sprachkompetenz?
  • Hat die "Kuschel-Pädagogik" versagt?
  • Müssen wir wieder zur alten Drillschule zurück?

Die Aufgabe der Schule
Was hat ein Mensch überhaupt in der Schule zu lernen?
Es gibt Fachleute, die warnen davor, Schulen voreilig in gute oder schlechte Schulsysteme einzuteilen, bevor nicht geklärt ist, welche Kompetenzen überhaupt vermittelt werden sollen. Die Autoren der PISA Studie haben viel darüber nachgedacht. Aber wie bei jedem Test gilt es Prioritäten zu setzen.
Die Aufgabe der Schule bleibt vielschichtig. Es geht sicherlich nicht nur um gute Sprach oder Mathematikkenntnisse. Bundesrätin Dreifuss sagte an einem Genfer Symposium einmal, die Schule müsse zwar die Schüler für den Markt "fit" machen, aber ebenso wichtig sei die soziale Kohäsion und die Sicherstellung der Chancengleichheit.
Wir vertreten aber die Meinung, dass ein Manko bei den Leseverstehen ein gravierender Mangel einer Kernkompetenz wäre. Dieser Mangel darf nicht mit dem Hinweis auf andere Kriterien gleichsam beschönigt werden. Der Mensch sollte Gelesenes verstehen können und in der Schule lernen, sich verständlich mündlich und schriftlich auszudrücken. Die OECD misst der Lesekompetenz eine hohe Bedeutung für eine erfolgreiche berufliche Karriere zu.

Lust, Motivation und Disziplin
Es wäre wichtig, die Ursachen der mangelhaften Sprachkompetenz genauer zu kennen. Hier einige grundätzliche Überlegungen:
Die Förderung der Sprachkompetenz ist nicht durch Senkung der Leistungsanforderung zu erreichen: an einer Fastnachtspräsentation in Deutschland wurde einmal zu diesem Thema gewitzelt:
"Jeder kann alles, wenn nur das Niveau entsprechend gesenkt wird!"
Die PISA Studie schockte vor allem unsere nördlichen Nachbarn: 10 Prozent der deutschen Schüler sind laut der PISA Studie kaum in der Lage, einfache Informationen aus Texten zu ziehen. 22 Prozent gelten als leseschwach. In Deutschland wurde dem Schulsystem vorgeworfen, die Ansprüche würden zurückgeschraubt und es dominiere die sogenannte "Kuschelschule". Das Wichtigste sei das Spass- und Lustprinzip geworden. Schüler könnten ihr "Lern-Menue" selbst bestimmen.
Lernen kann, soll und darf sicherlich Spass machen, doch ist Lust nicht das Ziel von Lernprozessen. Kein Sportler und keine Pianistin könnte ohne konsequentes Üben die eigene Leistung verbessern. Ohne hartes Training gibt es keinen Erfolg. Und Training ist leider nicht immer Honigschlecken.
Über Jahre wurde vielleicht auch der Schweiz das Lustprinzip überbetont. Hedonismus war Trumpf. Lust war gleichsam das wichtigste Lernprinzip. Spass am Lernen ist vielen Schulstuben gleichsam Selbstzweck geworden.
Die Lehrenden sahen in den Schülern Wesen, die ohne Druck, ohne Forderung bereit sind, freiwillig zu lernen und selbst kennen, welche Kompetenzen sie im Leben brauchen. Dass Freude am Erfolg möglicherweise erst nach harten Lernprozessen Lust auf mehr weckt, wurde zu wenig erkannt.
Neues zu lernen können wir leider nicht immmer nach dem "Prinzip des geringsten Widerstandes".
Jeder Lernende versucht sich in der Regel, gegen die unangenehmen Seiten des Lernens zum Wehr zu setzten. Das darf er auch, das ist normal. Aber Lehrende sollten mit diesen verständlichen Widerständen umgehen können. Widerstände gehören - so wie die Lust - zu allen Lernprozessen.

Positive Einstellung
Beachten wir einmal den sprachlichen Umgang in den Bereichen Schule, Lehrpersonen und Lernen: "Schule oder Lernen" wird sprachlich vielfach zu negativ geprägt.
  • Schulen sind Zwangsanstalten
  • Lehrer sind doof und faul
  • Lernen ist Fronarbeit
  • Arbeit gilt generell als Stress
  • Hausaufgaben sind "nutzloses Tun" (vergällt die Freizeit)
  • Pünklichkeit, Sauberkeit und Ordnung sind als zwangsstaatserhaltende "Sekundärtugenden" abzulehnen
  • Sportunterricht ist ein "vormilitärischer Drill"
  • Schüler, die lernen, sind Streber
  • Benotung ist schlecht und ungerecht
  • Strafen oder Massnahmen sind verboten (Ausschluss aus der Schule - beispielsweise bei wiederholten, unzumutbaren Störungen) Hartes, konsequentes Verhalten gilt als unzumutbare Repression. (vgl. dazu den Onlineartikel Verhaltensoriginell statt schwererziehbar).
  • "Sitzenbleiben" ist nicht mehr erlaubt
Die Einstellung zum Lernen hat immer auch mit dem Sprachgebrauch zu tun. Gedanken und Worte beeinflussen sich gegenseitig. Deshalb sollten wir bedachtsamer mit den Formulierungen im Lernbereich umgehen.

Sparversuche
Politiker versuchten die Schule - wie Firmen - zu rationalisieren:
  • Grössere Klassenbestände.
  • Senkung der Stundenzahlen.
  • Verzicht auf Leistungsbeurteilungen.
  • Wissen wird komprimiert oder wie eine Ware rationalisiert
  • Pfannenfertige Lehrmittel - von Spezialisten ausgearbeitet- täuschen ein schnelleres Lernen vor. Die Jugendlichen erkennen vielfach die Zusammenhänge von komplexen, teuren Lehrmittel gar nicht mehr. Das Ausfüllen von Lückentexten zum Beispiel fördert die Schreibkompetenz kaum.
  • Die Vermittlung von Wissen kann im Allgemeinen nicht in kürzerer Zeit geschehen.
Ob solche Sparmassnahmen das Lernen erleichtern, ist fraglich.

Qualitätssteigerung
Was müsste zur Förderung der Sprachkompetenz konkret getan werden?
In den pädagogischen Hochschulen sollten die Studenten vermehrt ausgebildet werden, den Schülern zu lehren, wie man selbst lernen kann. Sie würden so zu Helfern zur Selbsthilfe.
Auch müssen die Lehrpersonen Werkzeuge beherrschen, um Probleme selbst lösen zu können. Heute kann oft nicht mehr ohne externe Berater Unterricht erteilt werden.
(Siehe dazu den Onlineartikel Lehrkräfte zu Persönlichkeiten schulen.)
Qualitätsverbesserung muss auch in den Schulen zur Selbstverständlichkeit werden z.B. Über Selbst- und Fremdbeurteilung (siehe Veränderungsmanagement).

Gebrauch aller Lernkanäle
Die Sprachkompetenz ist über alle Sinne zu erwerben. Es gibt nicht nur das Hören. Ohne das eigene Tun erlangen wir wir keine Sprachkompetenz. Deshalb sollten vermehrt alle "Lern-Kanäle" genutzt werden:

LesenZuhörenSchreiben/Zeichnen RedenNachdenken
AugenOhrenHändeMund Herz

Der Spruch "Kopf, Herz und Hand" ist wieder modern. Mit allen Sinnen lernen heisst sinnvoll lernen.

Situationsgerechte Mittel
Bedenken wir: Im Medienbereich haben neue Informationsmedien ältere Medien nie ersetzt, nur bereichert. Das Telefon hat das persönliche Gespräch nicht ersetzt, die email hat das Telefon nicht verdrängt. Trotz Fernsehen gibt es noch das Radio. Das Buch überlebte Film und Video. Zum Email hat sich das SMS gesellt. Das Internet konnte auch das Buch oder die Zeitung nicht zum Verschwinden bringen. Im Gegenteil: Es kam zu einem zusätzlichen, neuen Bücher- und Fachzeitschriftenangebot.
Was aber heute gerade wegen dieser Medienvielfalt unbedingt besser beachtet werden müsste: Wir sollten mit Medien situationsgerechter umgehen lernen. Die Lehrpersonen müssten auch medienpädagogisch besser ausgebildet werden, damit sie Medien situationsgerechter einsetzen können.
Wir stellen bei Supervisionen immer wieder fest, dass selbst Manager oder Dozenten Mühe im Umgang mit den jeweiligen Medien haben können. Welches Medium soll wann, wie eingesetzt werden? Präsentationsmedien wie Hellraumprojektor, Flipchart oder Powerpoint haben Vor- und Nachteile. Es gilt jedoch generell:
Die schönste Folie, der lebendigste Internetauftritt die farbenprächtigste "gerissenste" Projektion nützt nichts, wenn die Darstellung nicht verstanden wird, wenn das Medium nicht sinnvoll, situations- und adressatengerecht eingesetzt wird.

Erkenntnisse der Hermeneutik umsetzen
Bei der sprachlichen Kompetenz (mündlich und schriftlich) gilt es, die Phänomene der Wahrnehmungspsychologie ebenfalls vermehrt zu berücksichtigen. Wir hoffen, dass in der Ausbildung der Ausbildner die Erkenntnisse der Hermeneutik (der Kunst des Verstehens) umgesetzt werden. Hier gibt es auf allen Stufen einen Nachholbedarf.
Verständnistraining lässt sich im Verbund mit allen Medien ständig anwenden. Ohne aktives Üben kommt es zu keiner Verbesserung. Lernen wir aus der PISA Studie!

Links zum Thema:

Zur PISA Studie
Die Tabellen in dieser Box stammen aus einer Zusammenfassung von Urs Moser von der Pisa Studie, oder aus dem ausfürlichen PISA Testbericht (3 Meg PDF).
Beim internationalen PISA 2000 Vergleich wurden 250'000 Jugendliche im Alter von 15 Jahren aus 31 Ländern (27 OECD Länder sowie Brasilen, Lettland, Liechtenstein und Russland) getestet. Darunter waren 6100 Jugendliche aus der Schweiz. Die Testfelder waren Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften.
Statistik, zusammengestellt fuer die Schweiz Lesekompetenz Definitionen
Lesen Rangliste
Bemerkungen (hauptsächlich von den oben erwähnten PISA Documenten zusammengestellt):
  • PISA testet ein Leseverständnis, das im Schweizer Schulprogramm in diesem Alter nicht primär trainiert wird. In der Mittelstufe wird in der Schweiz z.B. auch wert auf Sprachstrukturanalyse und Grammatik gelegt, eine Fähigkeit, die die PISA Studie nicht testet.
  • Die Resultate sind aus Schweizer Sicht nicht so schlecht, wie einige Medien das impliziert haben. Die Tests platzieren die Schweiz im Mittelmass. In der Mathematik liegt die Schweiz gut im Vergleich zum internationalen Vergleich. Grundsätzliche Kritik an den Schulen ist also zu relativieren.
  • In der Schweiz ist die Schriftsprache im Grunde genommen schon eine erste Fremdsprache. Dieses "Handicap" haben auch Länder wie Holland oder Oesterreich.
  • In der Schweiz liegt der Anteil von Schülern aus immigrierten Familien bei über 20 Prozent. Rund ein Viertel dieser Schüler verstehen deutsche Texte nicht gut. Auch dies relativiert das Resultat. Die BFS/EDK Statistik der PISA Tests zeigt ganz klar die Abhängligkeit der Testresultate von der Verweildauer im Sprachgebiet.
  • In der Schweiz ist die Einschulung relativ spät. Im Alter von 15 Jahren haben die Jugendlichen aus OECD Ländern im Durchshnitt 9 1/2 Schuljahre hinter sich, in der Schweiz erst 9 Schuljahre. Man beachte in der unteren Grafik das gute Abschneiden von Ländern mit mehr als 10 Schuljahren zum Testzeitpunkt.
  • Für die älteren Bevölkerungsgruppen in der Schweiz sieht es in Lesekompetenz nicht besser aus. Die Jungen schneiden nach einer Studie von Stoll von der Uni Zürich nicht schlechter ab als Erwachsene. Auch Leute im Alter von 26 bis 35 waren im Lesetest wesentlich gewandter als 56- bis 65-Jährige. Für Aussagen, dass die Schulen im Laufe der letzten 30 Jahren schlechter geworden sind, fehlt die Substanz.
  • Gewisse Schulen in den USA bereiten die Schüler in Sonderstunden auf Tests vor. Gute Testresultate machen die Schule attraktiver, sie kriegen mehr Geld, mehr Prestige und bessere Lehrer, die Immobilienpreise in der Umgebung der Schule steigen etc. Ranglisten der Schulen sind auf dem Internet zu finden. Es ist schon passiert, dass Schulen nicht alle Schüler an die Prüfungen schickten. Schlechtere Schüler waren "krank". Wie in der Pisastudie zu lesen ist, sind die Schuladministratoren für den Test verantwortlich. Wie bei jedem Test stellen sich Fragen: Wie gut werden die Tests kontrolliert? Wieviel Hilfe oder Vorbereitung wird vom Testpersonal gegeben? Wird von einer unabhängigen Instanz kontrolliert, ob alle Schüler einer Klasse getestet werden?
  • In den USA gibt es eine grosse Anzahl von Eltern, die ihre Kinder in Privatschulen schicken oder selbst unterrichten ("home schooling"). Solche Kinder werden oft auf obligatorische Tests gezielt vorbereitet. Auch einige der öffentlichen Schulen organisieren Speziallektionen, um die Kinder für die Tests zu trainieren. Schon die Form der Fragen oder die Fragetypen zu kennen, hilft enorm, besser abzuschneiden.




Nachtrag vom 3. Dezember, 2004. Der "Spiegel" veröffentlichte Ranglisten der neusten PISA 2003 Ergebnisse:

Die Schweiz hat beim PISA-Schultest 2003 im Vergeleich mit den Nachbarländern Deutschland, Österreich und Frankreich gut abgeschnitten. Unter den 29 OECD-Staaten hat die Schweiz als bestes Land im deutschsprachigen Raum abgeschnitten.


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