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www.rhetorik.ch aktuell: (23. Mai, 2001)

Verhaltensoriginell statt schwererziehbar?


Im Zusammenhang mit den Sendungen rund um das Hoehlendrama - (Studenten wurden bei einem Projekt "Erlebnispaedagogik" in der Goumois-Höhle im französischen Jura eingeschlossen und konnten nachher nur mit grösstem Aufwand gerettet werden) - zeigte das Schweizer Fernsehen in der "Rundschau" noch weitere Projekte, die unter dem Titel "Erlebnispädagogik" durchgeführt werden.
Unter anderem zeigten Filmsequenzen, wie verhaltensgestörte Jugendliche, die schwererziehbar sind und durch kriminelle Handlungen zwangseingewiesen werden, in aufwendigen Projekten ein verbessertes Verhalten erwerben sollen. (Hängegleiterkurse, Aufenthalte auf Segelbooten, Bergsteigen usw.)

Die Fernsehkonsumenten erfuhren dabei, dass heute Begriffe wie
  • schwererziehbar
  • verhaltensgestoert
nicht mehr korrekt seien. Statt dessen heisse es nun: Die Jugendlichen sind verhaltensoriginell.


Wir haben in verschiedenen Beiträgen, wie darauf hingewiesen, dass Worte Sachverhalte nicht nur steuern sondern auch verfälschen können.
Ein Kind, das in einer Normschule nicht mehr erzogen werden kann (also schwer-erziehbar ist) oder ein Jugendlicher, dessen Verhalten gestört ist (und die Umwelt - aus welchen Gründen auch - stört) ist gewiss nicht "originell".
Wenn Begriffe beliebig zurechtgebogen werden und Sachverhalte nicht nur beschönigt sondern eindeutig auch verfälscht werden, sollten wie dies nicht stillschweigend hingenommen werden.

Rhetorik hat mit Wahrnehmung und Denkprozessen zu tun. Wer im Alltag feststellt, dass Begriffe beliebig zurechtgebogen werden, ist berechtigt, diese beschönigenden Begriffe zu hinterfragen.


Ist es tatsaechlich originell, wenn ein Jugendlicher einen Mitschueler erpresst oder mit einem Messer bedroht? Ist es originell, wenn jemand kriminelle Handlungen ausübt und sich an keinerlei Spielregeln hält?
Wer weder von Eltern oder Fachpersonen erzogen werden kann, bleibt nach wie vor "schwer-erziehbar".
Wenn das Verhalten gestört ist, so ist der Begriff "verhaltensgestört" präziser.


Nachtrag vom 20. Juli 2003, Sachverhalte konkret benennen.
In einer Lehrerweiterbildung bestätigten mir zwei Heilpädagoginnnen, dass sie den Begriff "Verhaltensgestört" nicht mehr verwenden dürften. Es müsse "Verhaltensauffällig" geschrieben werden.

Wir sind auch der Meinung, dass mit Worten sorgfältig umgegangen werden muss. Denn: Worte können Einstellungen prägen. Mit Worten lässt sich auch manipulieren. Sachverhalten können verdrängt oder beschönigt werden. So zum Beispiel in der Kriegsrhetorik oder mit Euphemismen.

Ein Kind mit einem gestörtem Verhalten ist tatsächlich verhaltensgestört. Das Verhalten wird mit dieser Bezeichnung weder begründet noch wollen wir mit der damit noch keinen Ursachen nachgehen. "Verhaltensgestört" ist für uns lediglich eine Beschreibung des Verhaltens und damit präziser als die allgemeinere Bezeichnung- "verhaltensauffällig". Es lohnt sich, fragwürdige Beschönigungen als solche zu bezeichnen. Eine blinde Person ist nicht "anders-sichtig". Ein Mann der putzt ist kein "Assistent", usw.


Nachtrag vom 22. Februar 2004: "Menschen mit Verhaltensstörungen"

Sozialpädagoge A. Frey machte uns in einem Leserbrief (siehe Box rechts) darauf aufmerksam, dass der Begriff "Menschen mit Verhaltungsstörungen" präziser sei als die absolute Bezeichnung "verhaltensgestört". Wir finden diese Präzisierung erwähnenswert, lehnen jedoch beschönigende Bezeichnungen wie "soziale Auffälligkeit" ab. Wir sind gegen jede Beschönigungen tatsächlicher Sachverhalte. Die Aussage "Seine Taten waren eher Untaten und nicht sonderlich gut." macht deutlich, dass nicht von Untaten geredet werden will. Das Wort "eher" und die Formulierung "nicht sonderlich gut" anstelle von "schlecht" veranschaulichen das. Obschon ein Sozialpädagoge "auffälligen" Menschen positiv an den vorhandenen Ressourcen aufbauen und verbessern muss, dürfen wir den Mut zur Eindeutigkeit nicht verlieren: Ein Schüler der seine Mitschüler quält, ist nicht nur "verhaltensauffällig" oder "verhaltensoriginell". Er "stört" letztlich. Sein Verhalten ist "gestört". Ist ein Schüler "originell", der dem Tischnachbarn das Bleistift in die Hand bohrt? Ist das Beleidigen oder Verletzen von Mitmenschen nur "auffällig"? Übrigens: Auch Kommunikationsprozesse können gestört werden. Reden wir deshalb eindeutig und nicht um den Brei herum.
Ich bin nicht einverstanden damit, dass der Begriff "Verhaltensgestört" präziser auf die Menschen zutrifft, die damit gemeint sind. Ohne beschönigend zu wirken, wäre ein Begriff, "Menschen mit Verhaltensstörungen" weit präziser. Merken sie den Unterschied? Ganz einfach: Bei dem von Ihnen bevorzugten Begriff wird der ganze Mensch abgewertet, er wird schlecht gemacht. Sicherlich waren seine Taten oder eher Untaten nicht sonderlich "gut". Doch bei dem von mir vorgeschlagenen Begriff werden nur die tatsächlichen Störungen berücksichtigt und nicht der ganze Mensch. In meinem Studium wurde vor allem der Begriff "soziale Auffälligkeit" verwendet, da dieser auf eine ganzheitlichere Weise zutrifft. Dieser lässt noch offen, was die Ursache für das Handeln war. Es ist möglich, dass innere Störungen dafür verantwortlich sind, aber auch, dass äussere Faktoren dabei eine Rolle spielen. Für die Entwicklung der sozial auffälligen Menschen ist dann sowieso wichtig, dass man mit ihren Ressourcen arbeitet und nicht mit den Schwächen, denn diese haben sie ja zur Genüge. Ich bitte Sie, ihren Artikel nochmals zu überdenken und gegebenenfalls anzupassen. Mir jedenfalls passt der Begriff "Verhaltensoriginell" noch, weil die Klienten mit denen ich arbeite, oft origineller sind in ihrem Verhalten als "normale" Menschen.

Mit freundlichen Grüssen
A. Frey Sozialpädagoge


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