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www.rhetorik.ch aktuell: (09. Apr, 2011)

Bieber Fieber

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Das Justin Bieber grassiert in Zürich. Der 15 jährige Justin Bieber stellt auf Twitter selbst Lady Gaga in den Schatten. Der Film auf Youtube wurde bisher über eine halbe Milliarde mal geschaut. Ein anderer Remix punkt mit 150 Millionen Views.
Aus der Ostsee Zeitung:
(...)

Entrücktes Gekreische. Mädchen, die auf die Bühne springen, um Musikern das Hemd vom Leib zu reissen. "Ausgeflippte Teenanger", fasste Peter Kraus zusammen. Man kannte das aus den USA, von Elvis und Bill Haley. 1956 schwappte das Phänomen nach Deutschland. Und der 17-jährige Münchner Krausnecker wurde zum "Teenie-Idol".

In der Sache selbst hat sich seitdem wenig geändert. Ein Foto in der Zeitung - schon morgens hüpft das Herz in den Hals, schlägt bis zu den roten Ohren. Ein Konzerttermin legt Glanz über öde Schulwochen. Vorfreude, wie sie zuvor allenfalls Weihnachten zustande brachte. Nicht alle Vorbilder sind - siehe "Rüpelrapper" (Hauptproblem Fäkalsprache) oder "Rebellen" (Hauptproblem Drogen) - in allen Aspekten gut, aber sie beweisen uns, was in uns steckt. Der Elan, mit dem wir Dänisch lernen, weil der Lieblingsfussballer Däne ist, oder - wie im Fall der Tokio-Hotel-verrückten Französinnen - Deutsch, um mitsingen zu können. Oder unser Impuls, Gitarre spielen zu wollen, obwohl wir seit dem Blockflöten-Drama eigentlich durch waren mit Musikschule.

Psychologen trennen die Begriffe Star und Idol, denn während man einen Star gut finden kann, ohne gleich wie er sein, aussehen oder ein Kind von ihm haben zu wollen, geht die Identifikation beim Idol darüber hinaus.

Einerseits vermuten wir, dass uns derselbe Haarschnitt - aktuell wäre das die "Bieber-Friese", die der Sänger selbst, oh Schreck, jüngst abgelegt hat - uns der Gedankenwelt unseres Idols näherbringt. Gleichzeitig wollen wir uns abgrenzen, indem wir zeigen, zu wem wir "wirklich" gehören, wenn wir es uns aussuchen können (denn Eltern und Geschwister aussuchen geht ja nicht). "Es gehört zum Jugendalter, sich auch Orientierung ausserhalb des Elternhauses zu suchen", betont Eveline von Arx, die bis 2008 das Dr.-Sommer-Team der "Bravo" leitete.

Orientierung hört sich für Elternohren akzeptabel an. Doch geht das meist mit Fanatismus einher. "Anhänger von Idolen weisen erstaunliche Parallelen zu religiösen Eiferern auf", heisst es in einem wissenschaftlichen Aufsatz. "Sektenähnlich" seien ihre Fanclubs. Joey McIntyre hat diese Hysterie als "animalisch" beschrieben. Seine Band mit den legendären, heute nichtssagenden Anfangsbuchstaben NKOTB löste 1990 weltweit Schreikrämpfe aus. Die Liebe der Fans für die New Kids on the Block erinnerte stark an die Beatle-Mania der 60er Jahre. Wo immer die Band auftauchte, so ist es für zu spät Geborene im Netz nachzulesen, versteckten Fans sich in Abfalleimern, Schmutzwäschestapeln oder Lastenaufzügen, warfen sich auf die Kühlerhauben der Band-Limousinen, bissen sich in der Kleidung der fünf Musiker fest, rissen Rasenstücke als Souvenir aus den Gärten ihrer Häuser.

Der Fanclub soll täglich 30 000 Briefe erhalten haben, eine Milliarde Dollar brachte 1990 der Verkauf von T-Shirts, Bettwäsche und Postern ein. Es war der Beginn der Ära der Boybands, die seither als Take That, Backstreet Boys oder US5 perfekte Projektionsflächen bieten.

Dass man es als Babyface bei den jungen Damen leicht hat, wusste schon Peter Kraus. Und es funktioniert immer wieder, schliesslich liegt die Halbwertszeit eines Teenie-Idols bei fünf Jahren, schätzt der Hamburger Sozialpsychologe Erich Witte. Dann wachsen Jugendliche nach, denen der Sinn nach etwas Neuem steht. Das muss nicht zwangsläufig revolutionär daherkommen, wie das Beispiel Robert Pattinson zeigt. Der Film-Vampir profitiert vom moralisch gefestigten Charakter seiner "Twilight"-Figur Edward - Romantik pur statt "Generation Porno".

Tragische Idole wie James Dean oder Nirvana-Sänger Kurt Cobain vereinen in sich den Weltschmerz der Jugend. Konservative Idole wie Boris Becker dagegen behaupten sich "vorbildlich" in der Leistungsgesellschaft. Jeder, wie er`s braucht. So lange er`s braucht.

Wenn es vorbei ist, ist das meist unwiderruflich. Aber nicht immer. Als NKOTB 2008 ihr Comeback verkündeten, brach ihre Webseite unter dem Ansturm mittlerweile gut 30-Jähriger Frauen zusammen. "Ich fühle mich wie 14", gaben diese bei den Konzerten zu Protokoll und wirkten glücklich. Da ein Comeback von Pierre Brice oder Abba jedoch unwahrscheinlich ist: Geben Sie dem Justin-Bieber-Film eine Chance. Er hat sogar den "Spiegel"-Kritiker zu Tränen gerührt - einen Mann.

Annika Reichardt
Nachtrag vom 10. April, 2011: Aus dem Sonntagsblick:


Eine lustige Szene auf 20 Min

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