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Rede von Leuenberger vom 6. September 2002

Dieser Text gibt die Rede wieder, die Bundesrat Moritz Leuenberger, Vorsteher des Eidgenössischen Departementes für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, anlässlich des Symposiums des Lucerne Festival am 6. September 2002 in Luzern hielt. ( Quelle). Leicht redigierte Fassung Quelle NZZ. Zurück zum Aktuell artikel.



Das Böse, das Gute, die Politik

Bundesrat Moritz Leuenberger am Symposium des Lucerne Festival zum Thema
"Verführung". 

Quelle. 

Die Verführung als Thema einer Rede liess mich spontan an Willhelm
Reich denken, an Elias Canetti, Masse und Macht, an....

Meine Damen und Herren,

Sie wissen genau: Das ist geschwindelt. Beim Wort Verführung
dachte ich zunächst an etwas Erotisches, das ich jetzt allerdings
im Detail nicht preisgeben kann. Es sind ja auch Medien anwesend. Ich
schätze allerdings, es gebe auch einige Wenige unter Ihnen, die bei
Verführung zunächst an Erotisches denken. Dazu gehören
auch die Werber, die das Sujet für die Musikfestwochen in Luzern
schufen, den auftauenden Apfel. Gemeint ist offensichtlich der Apfel
von Eva und Adam. Dieser hat allerdings mit Erotik gar nicht so viel zu
tun, sondern kam ursprünglich vom Baum der Erkenntnis des Guten und
des Bösen. Eva pflückte ihn verbotenerweise und bot ihn Adam
an. Diesem wurde er zu heiss, weshalb er ihn in einer Tiefkühltruhe
versorgte. Von dort holten ihn die Werber hervor und druckten ihn auf
das Programmheft und die Plakate des Lucerne Festivals. Dort schmilzt
er seither dahin und verführt zum Besuch der Musikfestwochen.

Deren Musik verführt ihrerseits. Ihre Saiten sprechen Seiten in uns
an, die wir im Alltag zupanzern, wecken Emotionen, die der gebotene
Diskurs unserer angeblich rationalen Politik nicht zulässt,
regen an zu Phantasien, die das gesittete Leben durcheinander bringen
könnten und darum rasch wieder tiefgekühlt werden müssen,
wenn der Beifall zum Konzert verklungen ist.

Warum scheuen wir uns eigentlich, dazu zu stehen, dass wir uns gerne
verführen lassen?

Führen

Geht es um das Gegenstück der Verführung, nämlich um
Führung, sieht das ganz anders aus:

Wer für eine Exekutive kandidiert, muss sich seiner
Führungsqualitäten rühmen, die er in der Wirtschaft,
im Sport oder im Militär erworben hat. Sonst bleibt er
chancenlos. Mütter, die in die Politik einsteigen wollen, müssen
verzweifelt schildern, wie Kindererziehung und die Führung
eines Haushaltes ebenso harte Führungsarbeit sei wie die Leitung
eines Artillerieregimentes oder die Betreuung einer erschöpften
Fussballmannschaft. Aktive Führung wird verlangt. Sie ist ein
positives Markenzeichen. Führungsschwäche dagegen ist wohl einer
der furchtbarsten Makel, die sich ein Politiker vorwerfen lassen muss.

Eigentlich ist das merkwürdig in einer Demokratie, und erst recht in
einer direkten Demokratie, wo doch das Volk und nicht der Politiker der
Souverän ist. Braucht ein Souverän Führer? Das letzte Wort
hat doch das Volk, betreffe dies nun den UNO-Beitritt oder die Höhe
der Kehrichtgebühren. Die Politiker sollen einen möglichen Weg
vorbereiten, Kompromisse suchen an runden Tischen, mit Vernehmlassungen,
sie sollen technische Fragen aufarbeiten, den Weg zeigen, der ihrer
Meinung nach zu gehen ist. Aber ob dieser Weg dann auch beschritten wird,
entscheidet das Volk. Die Führungsarbeit beschränkt sich auf
die Rodungsarbeiten, die Zubereitung des Pfades. Führen heisst in
der Politik meist nicht in erster Linie entscheiden. Die Entscheidung
fällt der Souverän.

Einen Weg suchen heisst allerdings auch, die Richtung bestimmen. Richtung
und richtig sind die selben Wörter und das zeigt schon die Gefahr,
welche mit führen verbunden ist. Wissen denn diejenigen, die
führen, den richtigen Weg? Oder massen sie sich da etwas an?

Dennoch, Führungsarbeit muss geleistet werden. Niemand, der Mühe
hätte mit Führung als Prinzip in der Politik.

Verführen

Wie aber steht es mit der Verführung? Um zu ihr zu stehen, braucht
es doch einige rechtfertigende Anläufe.

Der Brockhaus definiert die Verführung kurz und bündig als
eine kriminelle Tat.

Der Duden ist etwas differenzierter, weist aber dennoch vorwiegend auf
ihren pejorativen Gehalt. Sie bestehe darin, jemanden zu etwas Unklugem,
Unrechtem oder Unerlaubtem zu bringen.

Der negative Beigeschmack von verführen entspricht anderen
Wörtern mit der Vorsilbe ver, also sich versprechen, verdrehen,
(verkehren sage ich als Verkehrsminister besser nicht, sonst
verstimme ich wieder einige...). Es wird damit ein falscher Gebrauch
ausgedrückt. Verführen hiesse also schlecht führen,
falsch führen.

Wen wundert es da, dass es keinen Politiker gibt, der von sich sagen
würde, er wolle und könne seine Wähler und Wählerinnen
verführen.

Und dennoch: Es gibt, wie überall, auch in der Politik Verführer
und Verführte:

Wie immer bei negativ besetzten Eigenschaften entdecken wir sie
zunächst bei den anderen, ich zum Beispiel bei den Populisten.

Böse Verführer: Die Populisten

An sie geht der Vorwurf, das Volk zu verführen.  Populismus ist
genau gesehen eine Erscheinung der gegenseitigen Verführung: Der
Populist lässt sich durch eine Stimmung im Volke verführen,
nimmt dessen unartikulierte Wünsche und Verwünschungen auf,
formuliert sie zu eigenen Parolen und lässt sich dann tragen
von den begeisterten Massen. Er verleiht denjenigen eine Sprache, die
ihre Gefühle nicht ausdrücken können, spricht aus, was
gefühlt wird, und verführt so seinerseits wiederum das Volk,
indem er dieses glauben lässt, es gäbe in der Tat einfache
Lösungen für komplexe Probleme und er, der Verführer,
kenne sie. Er verschweigt oder verdrängt, dass seine Lösung
nicht machbar ist, er unterdrückt die ganze Wahrheit zu Gunsten
der halben Wahrheit, die bequemer und billiger ist. Er hat mit diesem
Vorgehen Erfolg und so kann sich das Volk wiederum mit dem Starken und
Erfolgreichen identifizieren. Verführer und Verführte teilen
sich den narzisstischen Gewinn.

Sich auf das Volk zu berufen, sollte ja eigentlich nicht negativ
sein. Populismus hat dennoch einen negativen Beigeschmack, wohl deshalb,
weil der Populist sich ständig auf das Volk beruft, ja, ihm und
seiner bereits festgelegten Meinung hinterher rennt. Der Populist will
nur dorthin führen, wo er annimmt, das Volk befinde sich bereits. Und
das ist nicht Führung, sondern Anpassung. Derjenige, der führt,
riskiert im Gegensatz zum Populisten Unpopularität, weil sein Ziel
unter Umständen nicht identisch ist mit demjenigen des Volkes und
er darum viel Ueberzeugungsarbeit leisten muss.

Doch wer ist das Volk?

Zwischenfrage: Wer ist den eigentlich das Volk? Gehört
der Verführer auch zum Volk? Ganz alle gehören ja nicht
dazu. Die Linken und Netten jedenfalls nicht. Die Milliardäre? Die
Kunstschaffenden? Und die Ausländer? Gehören die Politiker
dazu? Oder gehören die zur classe politique?

Diese Fragen zeigen, dass etwas nicht aufgeht, wenn man sich auf
das Volk beruft. Offenbar gibt es da doch einen Graben zwischen Volk
und Verführer, zwischen populus und Populist.  Dieses Volk sind
offenbar nicht die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, nicht der
Souverän in unserer Demokratie, sondern blosse Legitimationsbasis
für die Verführer und zugleich die verführte Masse.

Gibt es gute Verführer?

Weil Verführung immer etwas Doppeldeutiges an sich hat, versuchte
ich auch ein positives Beispiel zu finden. Als guter Verführer kam
mir dabei spontan der Bundesrat in den Sinn und das folgende Beispiel:

Militärgesetzvorlage 2001. Abstimmungsgetöse. Die Rechte war
dagegen, ein kleiner Teil der Linken ebenfalls. Als sozialdemokratischer
Bundespräsident wandte ich mich gegen die diffamierende Kampagne
der Rechten und setzte die Kampagne  mit der Nein - Parole gleich. Ich
errichtete der zweifelnden Linken so eine moralische Barriere, für
die Vorlage zu stimmen, weil sie sich sonst im Lager der (rechten)
Gegner befunden hätte. Der Appell war aber eine verführerische
Verkürzung, denn die linken Gegner führten eine eigene Kampagne.

Diese Intervention scheint für die knappe Annahme der Vorlage
entscheidend gewesen zu sein, eine Verführung zu einem, wie ich
meine, richtigen und guten Resultat also. Das wurde allerdings heftig als
unstatthafte Manipulation angeprangert. Wäre es eine Manipulation
gewesen, wäre das Vorgehen verwerflich, weil der Manipulator sein
Gegenüber als Manövriermasse betrachtet. Der Verführer
jedoch sieht in ihm einen Spielpartner. Als Partner habe ich vor einem
Jahr die Linke auch betrachtet, welche im Begriff war, sich in das
falsche Bett zu legen.

Eine Manipulation ist das also nicht gewesen. War es eine
Verführung? Ein Verführer bringt ja sein Opfer
definitionsgemäss zu etwas Unerlaubtem, Verwerflichem. Kann denn
ein Politiker aus seiner eigenen Sicht ein Verführer sein? Er
selber hat ja nie ein unmoralisches Ziel  das sehen nur seine Gegner
so. Allenfalls gesteht er, eine List anzuwenden. Die List gehört
ja seit je zur Auszeichnung eines guten Generals. Warum sollte sie also
nicht auch einen guten Politiker auszeichnen?

Die aktive Verführung erfolgt in aller Regel intuitiv, im Glauben,
für die eigene gute Sache alle Register, auch die emotionalen, ziehen
zu dürfen, um dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Vielleicht
auch deswegen bezeichnet sich kaum einer als Verführer, sondern
versteht sich als Führer mit einem legitimen Anspruch.

Professionelle Verführer: PR-Berater

Dennoch gibt es die professionellen Verführer, die auf ihre
Arbeit stolz sind: PR-Profis, Werbeagenturen, die in Zusammenarbeit
mit Meinungsforschern ausklügeln, welche Saiten gezupft werden
müssen, damit sich die Resonanz einstellt.

In wenigen Tagen stimmen wir über das Elektrizitätsmarktgesetz
(EMG) ab. Meinungsforscher haben herausgefunden, dass die meisten
Leute empfänglich sind für folgende Argumente: Wir
brauchen eine geordnete Marktöffnung, müssen der Wirtschaft
helfen, die Konsumenten schützen und umweltfreundlichen Strom
fördern. Entsprechend habe ich meine Referate aufgebaut.

Ich ersuche bei dieser Gelegenheit auch Sie um ein Ja, denn wie
sonst haben Sie die Garantie, dass künftig bei geöffneten
Märkten genügend Strom für die Mikrophone, welche Reden
und Musik verstärken, vorhanden ist? Das EMG ist  genau gesehen -
hauptsächlich ein Kulturförderungsgesetz! (.... so jedenfalls
würde mir wohl eine PR-Agentur raten, vor einem Publikum von
Musikliebhabern und Rednern zu argumentieren....)

Verführt werden

Verführung als solche ist kaum Gegenstand tagespolitischer
Diskussionen, ausser eben als Straftatbestand oder in Zusammenhang mit
Radio- und Fernsehwerbung: Gegen sie wurde im Parlament argumentiert, sie
verführe und solle daher nicht oder nur in engsten Grenzen zugelassen
werden. Sie verleite zu Bedürfnissen, die die verführten
KonsumentInnen im Grunde genommen gar nicht hätten.

Diese Argumentation, Werbung schaffe künstlich Bedürfnisse und
verführe jemanden dazu, Dinge zu konsumieren, die er eigentlich
gar nicht wolle, übersieht die Bereitschaft der Menschen, sich
Suggestionen hinzugeben, den Erfahrungshorizont auszureizen, etwas
Neues kennen zu lernen, kurz, sich verführen zu lassen. Es gibt
die Bereitschaft, sich einen Weg zum schnellen Geld ebnern zu lassen mit
Visionen der besonderen Art. Geld und Reichtum sind verführerische
Kräfte, welche dazu verleiten können, die üblichen Normen
unserer Existenz zu überschreiten. Aber da gehören auch Essen
und Trinken, Schönheit und Anerkennung, Eitelkeit und Geltungsdrang
dazu. Ohne sie wäre unser Leben arm und reizlos, auch wenn all dies
zur Sucht werden und die Menschen zerfressen kann.

Jede Verführung spricht etwas in uns an, das uns fehlt, eine
Sehnsucht, einen Traum, den wir gerne verwirklichen möchten,
eine Grenze, die wir überschreiten möchten. Das kann auch
eine Utopie sein. Grenzen zu sprengen, die Grenzen zwischen Volk und
Aristokratie, die Grenzen der Apartheid, des eisernen Vorhanges, das
waren zunächst Visionen, zu denen kritische politische Anführer
verführt haben, denn das jeweils herrschende System erlaubte nicht,
diese Grenzen in Frage zu stellen.

Verführung ist in diesem Sinne auch die Chance der Veränderung,
der Hoffnung, des Aufbruches.

Kopf und Bauch

Dennoch  vielleicht deswegen - zeigt sich in der Politik eine grosse
Reserve gegenüber allem Verführerischen. Schon gar nicht
akzeptiert ist verführerische Werbung durch den Staat. Er hat
aufzuklären, doch verführen darf er nicht. Er soll nicht in
die Tasten der Gefühlsklaviatur greifen. Das zeigte sich damals
auch an den empörten Reaktionen gegen meine Intervention beim
Militärgesetz.

Ich halte diese Reserviertheit gegenüber emotionaler
Ueberzeugungsarbeit nicht für angebracht. Sie geht davon
aus, der Mensch funktioniere hauptsächlich nach Kriterien des
Verstandes. Diese Ueberbewertung der vermeintlichen Rationalität in
der Politik erlebten wir schon bei der Diskussion um das Frauenstimmrecht:
Die Frauen, so wurde befürchtet, könnten sich bei Wahlen und
Abstimmungen bloss emotional verhalten - im Gegensatz zu den Männern,
welche selbstverständlich nach rein sachlichen Kriterien handeln.

Es ist kein Ideal, sich nur gerade von der Ratio leiten zu
lassen. Guillotine und Rassengesetze sind auch mit ihr begründet
worden. Politische Diskussionen, Vertragsverhandlungen in der Wirtschaft
oder zwischenmenschliche Auseinandersetzungen erfolgen vordergründig
zwar argumentativ, also rational, sind aber in Tat und Wahrheit immer
auch von Glaubensüberzeugungen und Ideologien überlappt.

Der Mensch, und da gehören die Männer auch dazu, besteht aber
aus Bauch und aus Kopf, aus Gefühl und Verstand, gleichgültig ob
er einkaufe oder politisiere. Die Ueberbewertung der Rationalität in
der Politik ist eindimensional, beschränkt, einäugig. Es gibt
nicht nur den rationalen Diskurs mit These, Antithese und Synthese. Das
Leben ist keine Geometriestunde und die Politik schon gar nicht. Es gibt
auch die Rationalität der Emotionen, und es gibt die Vernunft des
Herzens, wie Pascal es ausdrückte. Le coeur a ses raisons que la
raison ne connaît point.

Der Politiker muss also rational denken und handeln, darf den Kopf nicht
verlieren, soll aber seine Emotionen wahrnehmen, zu ihnen stehen, sie
auch berücksichtigen. Aber wenn er eine Sache umsetzt, dann weder
allein auf der Basis der Sachlogik noch allein gemäss der Logik
des Herzens, sondern im Zusammenspiel aller Kräfte.

Verführung, Narzissmus, Abhängigkeit

Das ist nicht leicht, denn es bedeutet, der Verführung zu
widerstehen, populär zu entscheiden und geliebt zu werden.

Was in der Erotik schön und angenehm ist, kann in Politik und
Wirtschaft gefährlich werden. Das beginnt zunächst im Kleinen,
bei uns selber, bei den Sorgen um uns und unser Image:

Wie wirke ich? Es ist gerichtlich verboten zu vermuten, des Kanzlers Haare
seien gefärbt.  Die NZZ schrieb, die meinen seien geföhnt. Soll
ich die Wiederholung dieser unwahren Ungeheuerlichkeit verbieten
lassen? Wie würde das wohl wirken?

Wie trete ich auf? Wie kleide ich mich? Ich gebe zu: Die Kleider- und
Krawattenwahl für einen Auftritt in der Arena nimmt mir mehr Zeit
als die inhaltliche Vorbereitung.

Wie gewinne ich die Zuhörer? Welche Worte wähle ich
für welches Publikum? Wie weit darf der Versuch gehen, die
Sprache und das Denken des Zuhörers zu erahnen, damit ich mit
ihm eine gemeinsame Ebene für den Dialog finde? Wo beginnt die
Anbiederung, die Unterwerfung, indem ich ihm nach dem Munde rede? Die
captatio benevolentiae war schon bei den alten Römern nur erlaubt
als Einstieg, als Türöffnung in den Raum der Zuhörer,
nicht aber als Unterwerfung.

Die Gefahr des Narzissmus, die Abhängigkeit des Politikers vom
Mainstream ist erst der Anfang. Sie führt zwangsläufig
zu weiteren Abhängigkeiten und in letzter Konsequenz zur
Korruption, zunächst zu einer moralischen, später oft zu
einer strafrechtlichen. Denken wir an die Berater, die Rasputine von
Verwaltungsräten und Behördenmitgliedern, denken wir an
Gefälligkeiten gegenüber Medien, um sie bei Laune zu halten,
und denken wir an das Umgekehrte, an Gefälligkeiten von Medien
gegenüber Politikern, um zu einer Indiskretion zu gelangen. Das
kann korruptive, ja mafiöse Ausmasse annehmen.

Doch die rigide Forderung nach gesellschaftlichen Verhältnissen
ohne  Elemente der Verführung wäre eine Verkennung des homo
politicus, der condition humaine. So findet sich denn der Politiker immer
wieder in einem eng geflochtenen Gewebe gegenseitiger Verführung.

Der ethische Diskurs um die Verführung dreht sich um ihr Ziel und
den Weg dazu

Wir sind nun einige Kurven gefahren von bösen über gute zu
professionellen Verführern. Ist jetzt Verführung eigentlich
legitim oder nicht?

Zunächst ist Verführung ein Faktum. Wir verführen und
wir lassen uns verführen. Ob wir das als negativ oder positiv
empfinden, hängt einerseits von unserer Bewertung des Zieles der
Verführung ab und zudem vom Weg, welcher eingeschlagen wird und
den Mitteln, die benützt werden. Es gibt legitime, zweifelhafte
und verwerfliche Wege. Wo ist die Grenze zwischen einer List und einer
Manipulation? Wann kippt Charme in Nötigung? Das Wort Verführung
meint meist beides, und deswegen oszilliert dieser Begriff, schwingt
er hin und her zwischen legitim und illegitim. Verführung spielt
an den Grenzen dessen, was den Menschen als erlaubt und von den
überlieferten Normen her als richtig und tunlich erscheint. Wer
sich mit Verführung befasst, muss sich darum mit Unterscheidungen,
Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen befassen.

Wohin führen? Zu was verführen? Gut und Böse

Eine der grundlegenden Unterscheidungen  so alt wie die Menschheit  ist
der Unterschied zwischen Gut und Böse, der ethische Diskurs also.

Die Geschichte unserer Kultur beginnt mit dem Paradies, dann mit
einer Verführung, dann mit dem Sündenfall. Seither suchen
wir unaufhörlich, aber erfolglos nach der Erkenntnis zwischen Gut
und Böse.

Schon in der Tagespolitik gibt es den Unterschied zwischen Gut und
Böse.

Kampagnen erfolgen im Namen des Guten gegen das Böse, die
Antiraucherkampagne oder der Kampf gegen Drogenkonsum. Alle Sucht, alle
Laster sind von Bösem. (Als Verkehrsminister kann ich das verstehen:
Ich denke natürlich auch sehr viel an die bösen Laster auf
der Strasse und möchte sie alle auf die gute Schiene bringen...)

Es gibt die gute SVP in Bern, die böse in Zürich, wobei das in
der Zürcher SVP umgekehrt gesehen wird. Der Tagesanzeiger warf der SP
im Zusammenhang mit ihrer Stellungnahme zum Börsencrash vor, für
sie, die SP, seien die Kleinen immer die Guten und die Grossen immer die
Bösen, egal, was sie tun. Wer für das EMG einsteht, ist in den
Augen der Gegner kein richtiger, kein reiner Sozi mehr (also böse).

Das mögen harmlose Kleinigkeiten sein, die an Don Camillo und Peppone
erinnern. Sie können jedoch zu Glaubensgefechten ausarten und von
da zu den eigentlichen Glaubenskriegen führt ein direkter Weg:

Die Achse des Bösen

Nordkorea, Irak und der Iran bilden gemäss Bush eine Achse des
Bösen. Tony Blair findet das auch. Ronald Reagan nannte früher
die Sowjetunion ein Imperium des Bösen. Bush und Reagan haben
sich öffentlich zum Christentum bekannt, und beide folgten einer
bestimmten Interpretation der christlichen Sündenlehre. Sie
legt ihnen einen unerbittlichen, ja gnadenlosen Kampf zwischen Gut
und Böse nahe. Der amerikanische Film (von dem her Reagan kam),
vom klassischen Western bis zum Krieg der Sterne, baut auf diesem
Gegensatz von Gut und Böse auf und gipfelt regelmässig in
der unausweichlichen Konfrontation zwischen dem guten Helden und den
Mächten der Finsternis. Diese Ideologie verfolgt den Anspruch, das
Gute habe zu siegen. Sie bestärkt die Krieger mental, möglichst
bedingungslos an das Gute zu glauben.

Sie gibt die reine Lehre vor, die Reinheit des Guten, das wir anstreben
sollen. Wer vom Bösen befallen ist, muss von einem Exorzisten
behandelt werden, auch er eine beliebte Filmfigur in Hollywood.

Im Zusammenhang mit der Achse des Bösen ist von neuen
Kreuzzügen gesprochen worden, ausgerechnet von einem Europäer,
von Berlusconi. Wieder wollen Ritter ohne Furcht und Tadel die Welt
erlösen von allem Bösen.

Einmal abgesehen davon, dass diese Kreuzzüge schon einmal verloren
wurden: Lehren uns die Erfahrungen mit den Religionskriegen nicht,
dass Kreuzzüge grundsätzlich verwerflich sind? All die
Religionskriege brachten und bringen bis heute unendlich viel Leid
und konnten kaum je von innen heraus, von religiösen Führern,
überwunden werden. Meist haben erst politische Herrscher sie beendet,
Politiker, die Toleranz aushandelten oder verordneten, etwa 1598 im Edikt
von Nantes nach dem Hugenottenkrieg, oder 1648 im Westfälischen
Frieden nach 30-jährigem Krieg.

Mauer oder Krieg

Der bedingungslose Glaube an das Gute und der Anspruch, auf der guten
Seite zu sein, führen entweder zu einer Mauer zwischen Gut und
Böse - oder zum Krieg.

Der Gute und der Böse spielen nicht miteinander Schach und anerkennen
keine Spielregeln. Sie tauschen auch nicht die tieferen Gründe
miteinander aus, warum sie je auf der einen oder anderen Seite, genauer,
warum sie beide auf der guten Seite zu sein glauben. Jeder ist auf der
guten Seite. Jeder ortet das Böse auf der anderen Seite, den Alkohol
und die sexuelle Freizügigkeit, die andere Gesellschaftsordnung,
den anderen Glauben. Jeder glaubt an das Gute.

Mit dem Glauben hat denn auch der Unterschied zwischen Gut und Böse
sehr viel zu tun.

Es war das bedingungslose Entweder  Oder zwischen Sozialismus und
Kapitalismus, welches zum eisernen Vorhang und zur Berliner Mauer
führte. Ein Zaun wird derzeit im Nahen Osten errichtet.

Es war die Glaubensfrage zwischen Christen und Moslems, und innerhalb
der Christen zwischen orthodoxen Serben und katholischen Kroaten, die zum
Krieg auf dem Balkan führte. Es ist dieser heilige Glaube, welcher
stets zu ausweglosen Feindschaften, zum Krieg und Gewalt führt,
der Glaube, jemand, eine Religion, eine Weltanschauung, eine Politik
sei ausschliesslich böse und die andere sei ausschliesslich gut. Es
gibt Leute, in deren Köpfe brennt ein heiliger Scheiterhaufen, der
ständig auf Opfer wartet. Sie wollen kein Gespräch, sondern
nur deklarieren. Wenn der Gesprächspartner ihnen nicht beipflichtet
oder ihrem Glauben nicht beitritt, ist er böse, unwert. Solch
fromm-verblendeter Fanatismus betrachtet Menschen als Werkzeuge, als
Instrumente, als Transportmittel für Selbstmordanschläge. Dort,
wo der Mensch als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, haben alle
Totalitarismen ihre Wurzeln, und zwar in allen Kulturen. Das ist der
gemeinsame Nenner von Fundamentalismus, Rassismus und Nationalismus.

Wenn es heute schon beinah antiamerikanisch, also böse ist, Kyoto
zu erwähnen, oder wenn es als verdächtig gilt, historische
Zusammenhänge aufzuzeigen oder auf die Verteilung des Reichtums
in der Welt hinzuweisen, wenn als pazifistisch abqualifiziert wird,
wer statt von einem gerechten Krieg gegen den Irak lieber von einem
gerechten Frieden im nahen Osten spricht, so nähern wir uns wieder
jenem bedingungslosen Entweder - Oder.

Das Böse ist im Guten und das Gute im Bösen

Wissen wir, was das Gute ist, was das Böse ist? Gibt es die scharfe
Trennung?

Vom Bösen ist auch im Guten und vom Guten ist im Bösen,
denn in uns Menschen gibt es das Gute nicht absolut und auch das
Böse existiert nicht in Reinkultur. Es gibt auch, wie Mephisto
sich ausdrückte, jene Kraft, die stets das Böse will und
stets das Gute schafft. Und es gibt auch die Bereitschaft, sich von
der anderen Seite, - also meist vom Bösen, denn wer steht nicht
zunächst mal auf der guten Seite?  faszinieren, beeinflussen zu
lassen. Coca-Cola Werbung stellt in den Augen fundamentalistischer
Islamisten eine verführerische Gefahr dar. Nur Stunden nach dem
Fall der Zwillingstürme in New York waren erste Bin-Laden Witze
im Internet anzutreffen. Und wie ist es mit den heimlichen Phantasien,
worin denn  die angekündigten neuen Terroranschläge Bin Ladens
gegen die USA bestehen könnten? Sympathy for the devil!

 Liebe deine Feinde! Heisst das nicht: Versuche, dich hineinzudenken,
 hineinzufühlen in die Situation der anderen, zu begreifen, warum
 sie so denken und fühlen?

Wenn wir von einem Dialog der Kulturen sprechen und ihn ernsthaft
führen wollen, müssen wir auch anerkennen, dass in anderen
Kulturen andere Werte gelten. Zum Beispiel wird der Mensch in asiatischen
Kulturen nicht in erster Linie als ein Fordernder, der Rechte hat,
begriffen - sondern als einer, der zunächst in der Schuld der
Gemeinschaft steht und eine Pflicht zu erbringen hat. Das ist etwas
radikal anderes, als wenn wir unseren Individualismus mit der Aufforderung
relativieren: Fragt nicht nur, was euch der Staat bringen muss, sondern,
was ihr ihm bringen könnt.

Wir sollten solche Unterschiede zunächst einmal zu erahnen und
dann zu begreifen versuchen, bevor wir uns in Belehrungen ergehen. Diese
werden nämlich bald einmal imperativ und dann imperialistisch. Und
nicht selten versteigen sie sich am Ende zur Anmassung, zur Anmassung
von Dingen und Entscheidungen, die unsere nicht sind. Der Apfel von Adam
und Eva steht nicht für Erotik oder Sex, sondern für Anmassung.

Wer das Böse ausrottet, rottet die Freiheit aus

Die angemasste Erkenntnis von Gut und Böse verführt dazu,
sich als  Herren über Gut und Böse zu fühlen, Götter
zu spielen.

Der Kampf gegen das Böse ist die gefährliche Verführung
gut gemeinter Politik. Der verheerendste Glaube ist, es sei gut, das
Böse ausrotten zu wollen. Das Böse ausrotten wollen, heisst
in letzter Konsequenz, die Freiheit auszurotten.

Diese Erkenntnis, die Warnung davor, Richter über Böse und Gut
zu spielen, ist nicht gleich zu setzen mit einem pazifistischen Appell
gegen Terrorismusbekämpfung. So wie die damalige NATO-Intervention
im Balkan sehr wohl moralisch zu legitimieren war, ist der Kampf gegen
Terror auch eine Notwendigkeit für Menschlichkeit in allen Kulturen
und Religionen. Ein Kampf gegen das Böse mit seiner absoluten
moralischen Motivation und Ueberheblichkeit ist jedoch etwas anderes
und hat auch andere Konsequenzen.

Nicht die reine Güte wollen wir anstreben, weil wir es nicht
können, sondern zu unserer Unvollkommenheit stehen, müssen
wir.  Wir sind unserem Wesen nach fehlerhaft und müssen daher
fehlerfreundlich sein. Wir können das Gute nicht erreichen;
wir müssen uns mit dem Besseren begnügen. Diese Erkenntnis
könnte zumindest eine Voraussetzung für Frieden sein.

In das Paradies gelangen wir nicht mehr. Der Apfel ist
gepflückt. Aber wenn wir uns dem paradiesischen Frieden wenigstens
nähern wollen, sollten wir den Apfel vom Baum der Erkenntnis des
Guten und des Bösen wieder zurück in die Tiefkühltruhe
legen.

Es bleibt uns die Gewissheit, dass er von dort ja doch wieder herausgeholt
wird. Denn ewig bleibt

die Verführung.



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