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Rede von Leuenberger vom 6. September 2002

Dieser Text gibt die gekürzte und leicht redigierte Fassung der Rede wieder, die Bundesrat Moritz Leuenberger, Vorsteher des Eidgenössischen Departementes für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, anlässlich des Symposiums des Lucerne Festival am 6. September 2002 in Luzern hielt. Quelle: NZZ vom 14. September 2002. (Link zur Originalfassung. Es ist interessant, die Unterschiede dieser zwei Versionen zu finden.)

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Das Böse, das Gute, die Politik


Über die Grenze legitimer und schädlicher Verführung in der Politik

   Die Verführung ist etwas Doppelbödiges - vor allem in der Politik: Sie
   kann ein legitimes Mittel sein, um seine Ziele durchzusetzen, sie kann
   aber auch in schädlicher Weise manipulativ sein. Gefährlich wird sie
   dort, wo ein Denken, das nur mit den Kategorien von Gut und Böse
   arbeitet, die Auseinandersetzungen prägt.

   Von Bundesrat Moritz Leuenberger

   Wir scheuen uns, dazu zu stehen, dass wir uns gerne verführen lassen.
   Geht es um das Gegenstück der Verführung, nämlich um Führung, siehtdas
   ganz anders aus: Wer für eine Exekutive kandidiert, muss sich seiner
   Führungsqualitäten rühmen, die er in der Wirtschaft, im Sport oder im
   Militär erworben hat. Sonst bleibt er chancenlos. Mütter, die in die
   Politik einsteigen wollen, müssen verzweifelt schildern, wie
   Kindererziehung und die Führung eines Haushaltes ebenso harte
   Führungsarbeit seien wie die Leitung eines Artillerieregimentes oder
   die Betreuung einer erschöpften Fussballmannschaft. Aktive Führung
   wird verlangt. Sie ist ein positives Markenzeichen. Führungsschwäche
   dagegen ist wohl einer der furchtbarsten Makel, die sich ein Politiker
   vorwerfen lassen muss.

   Eigentlich ist das merkwürdig in einer Demokratie, und erst recht in
   einer direkten Demokratie, wo doch das Volk und nicht der Politiker
   der Souverän ist. Braucht ein Souverän Führer? Das letzte Wort hat
   doch das Volk, betreffe dies nun den Uno-Beitritt oder die Höhe der
   Kehrichtgebühren. Die Politiker sollen einen möglichenWeg vorbereiten,
   Kompromisse suchen an runden Tischen, mit Vernehmlassungen, sie sollen
   technische Fragen aufarbeiten, den Weg zeigen, der ihrer Meinung nach
   zu gehen ist. Aber ob dieser Weg dann auch beschritten wird,
   entscheidet das Volk. Die Führungsarbeit beschränkt sich auf die
   Rodungsarbeiten, die Zubereitung des Pfades. Führen heisst in der
   Politik meist nicht in erster Linie entscheiden. Die Entscheidung
   fällt der Souverän.

   Einen Weg suchen heisst allerdings auch die Richtung bestimmen.
   "Richtung" und "richtig" sind dieselben Wörter, und das zeigt schon
   die Gefahr, welche mit "führen" verbunden ist. Wissen denn diejenigen,
   die führen, den richtigenWeg? Oder massen sie sich da etwas an?
   Dennoch, Führungsarbeit muss geleistet werden. Niemand, der Mühe hätte
   mit Führung als Prinzip in der Politik.

Verführen - falsch führen?

   Wie aber steht es mit der Verführung? Um zu ihr zu stehen, braucht es
   doch einige rechtfertigende Anläufe. Der Brockhaus definiert die
   Verführung kurz und bündig als eine kriminelle Tat. Der Duden ist
   etwas differenzierter, weist aber dennoch vorwiegend auf ihren
   pejorativen Gehalt. Sie bestehe darin, jemanden zu etwas Unklugem,
   Unrechtem oder Unerlaubtem zu bringen.Der negative Beigeschmack von
   "verführen" entspricht anderen Wörtern mit der Vorsilbe "ver-", also
   sich versprechen, verdrehen (verkehren sage ich als Verkehrsminister
   besser nicht, sonst verstimme ich wieder einige . . .). Es wird damit
   ein falscher Gebrauch ausgedrückt. Verführen hiesse also schlecht
   führen, falsch führen.

   Wen wundert es da, dass es keinen Politiker gibt, der von sich sagen
   würde, er wolle und könne seine Wähler und Wählerinnen verführen? Und
   dennoch: Es gibt, wie überall, auch in der Politik Verführer und
   Verführte. Wie immer bei negativ besetzten Eigenschaften entdecken wir
   sie zunächst bei den anderen, ich zum Beispiel bei den "Populisten".

Böse Verführer - die Populisten

   An die Populisten geht der Vorwurf, das Volk zu verführen. Populismus
   ist genau gesehen eine Erscheinung der gegenseitigen Verführung: Der
   Populist lässt sich durch eine Stimmung "im Volke" verführen, nimmt
   dessen unartikulierte Wünsche und Verwünschungen auf, formuliert sie
   zu eigenen Parolen und lässt sich dann tragen von den begeisterten
   Massen. Er verleiht denjenigen eine Sprache, die ihre Gefühle nicht
   ausdrücken können, spricht aus, was gefühlt wird, und verführt so
   seinerseits wiederum "das Volk", indem er dieses glauben lässt, es
   gebe in der Tat einfache Lösungen für komplexe Probleme und er, der
   Verführer, kenne sie. Er verschweigt oder verdrängt, dass seine Lösung
   nicht machbar ist, er unterdrückt die ganze Wahrheit zugunsten der
   halben Wahrheit, die bequemer und billiger ist. Er hat mit diesem
   Vorgehen Erfolg, und so kann sich "das Volk" wiederum mit dem Starken
   und Erfolgreichen identifizieren. Verführer und Verführte teilen sich
   den narzisstischen Gewinn.

   Populismus hat seinen negativen Beigeschmack wohl daher, dass der
   Populist sich ständig auf das Volk beruft und ihm und seiner bereits
   festgelegten Meinung hinterherrennt. Der Populist will nur dorthin
   führen, wo er annimmt, dass sich das Volk bereits befinde. Und das ist
   nicht Führung, sondern Anpassung. Derjenige, der führt, riskiert im
   Gegensatz zum Populisten Unpopularität, weil sein Ziel unter Umständen
   nicht identisch ist mit demjenigen "des Volkes" und er darum viel
   Überzeugungsarbeit leisten muss.

   Aber wer ist denn eigentlich "das Volk"? Gehört der Verführer auch zum
   Volk? Ganz alle gehören ja nicht dazu. Die Linken und Nettenjedenfalls
   nicht. Die Milliardäre? Die Kunstschaffenden? Und die Ausländer?
   Gehören die Politiker dazu? Oder gehören die zur Classe politique?
   Diese Fragen zeigen, dass etwas nicht aufgeht, wenn man sich auf "das
   Volk" beruft. Offenbar gibt es da doch einen Graben zwischen Volk und
   Verführer, zwischen populus und Populist. Dieses Volk sind offenbar
   nicht die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, nicht der Souverän in
   unserer Demokratie, sondern es ist blosse Legitimationsbasis für die
   Verführer und zugleich die verführte Masse.

Gibt es gute Verführer?

   Weil Verführung immer etwas Doppeldeutiges an sich hat, versuchte ich
   auch ein positives Beispiel zu finden. Als guter Verführer kam mir
   dabei spontan der Bundesrat in den Sinn und dasfolgende Beispiel:
   Militärgesetzvorlage 2001. Abstimmungsgetöse. Die Rechte war dagegen,
   einkleiner Teil der Linken ebenfalls. Als sozialdemokratischer
   Bundespräsident wandte ich mich gegen die diffamierende Kampagne der
   Rechten und setzte die Kampagne mit der Nein-Parole gleich. Ich
   errichtete der zweifelnden Linken so eine moralische Barriere, für die
   Vorlage zu stimmen, weil sie sich sonst im Lager der (rechten) Gegner
   befunden hätte. Der Appell war aber eine verführerische Verkürzung,
   denn die linken Gegner führten eine eigene Kampagne.

   Diese Intervention scheint für die knappe Annahme der Vorlage
   entscheidend gewesen zu sein,eine Verführung zu einem, wie ich meine,
   richtigen und guten Resultat also. Das wurde allerdings heftig als
   unstatthafte Manipulation angeprangert. Wäre es eine Manipulation
   gewesen, wäre das Vorgehen verwerflich, weil der Manipulator sein
   Gegenüber als Manövriermasse betrachtet. Der Verführer jedoch sieht in
   ihm einen Spielpartner. Als Partner habe ich vor einem Jahr die Linke
   auch betrachtet, welche im Begriff war, sich in das falsche Bett zu
   legen.

   Eine Manipulation ist das also nicht gewesen. War es eine Verführung?
   Ein Verführer bringt ja sein "Opfer" definitionsgemäss zu etwas
   Unerlaubtem, Verwerflichem. Kann denn ein Politiker aus seiner eigenen
   Sicht ein Verführer sein? Er selber hat ja nie ein unmoralisches Ziel
   - das sehen nur seine Gegner so. Allenfalls gesteht er, eine List
   anzuwenden. Die List gehört ja seit je zur Auszeichnung eines guten
   Generals. Warum sollte sie also nicht auch einen guten Politiker
   auszeichnen? Die aktive Verführung erfolgt in aller Regel intuitiv, im
   Glauben, für die eigene gute Sache alle Register, auch die
   emotionalen, ziehen zu dürfen, um dem Guten zum Durchbruch zu
   verhelfen. Vielleicht auch deswegen bezeichnet sich kaum einer als
   Verführer, sondern versteht sich als Führer mit einem legitimen
   Anspruch.

Verführung zum Traum

   Verführung als solche ist kaum Gegenstand tagespolitischer
   Diskussionen, ausser eben als Straftatbestand oder in Zusammenhang mit
   Radio- und Fernsehwerbung. Gegen sie wurde im Parlament argumentiert,
   sie verführe und solle daher nicht oder nur in engsten Grenzen
   zugelassen werden. Werbung verleite zu Bedürfnissen,die die verführten
   Konsumentinnen und Konsumenten im Grunde genommen gar nicht hätten.
   Diese Argumentation, Werbung schaffe künstlich Bedürfnisse und
   verführe jemanden dazu, Dinge zu konsumieren, die er eigentlich gar
   nicht wolle, übersieht die Bereitschaft der Menschen, sich
   Suggestionen hinzugeben, den Erfahrungshorizont auszureizen, etwas
   Neues kennen zu lernen,kurz, sich verführen zu lassen. Es gibt die
   Bereitschaft, sich einen Weg zum schnellen Geld "ebnern" zu lassen mit
   Visionen der besonderen Art. Geld und Reichtum sind verführerische
   Kräfte, welche dazu verleiten können, die üblichen Normen unserer
   Existenz zu überschreiten.Aber da gehören auch Essen und Trinken,
   Schönheit und Anerkennung, Eitelkeit und Geltungsdrang dazu. Ohne sie
   wäre unser Leben arm und reizlos, auch wenn all dies zur Sucht werden
   und die Menschen zerfressen kann.

   Jede Verführung spricht etwas in uns an, das uns fehlt, eine
   Sehnsucht, einen Traum, den wir gerne verwirklichen möchten, eine
   Grenze, die wir überschreiten möchten. Das kann auch eine Utopie sein.
   Grenzen zu sprengen, die Grenzen zwischen Volk und Aristokratie, die
   Grenzen der Apartheid, des Eisernen Vorhanges, das waren zunächst
   Visionen, zu denen kritische politische Anführer verführt haben, denn
   das jeweils herrschende System erlaubte nicht, diese Grenzen in Frage
   zu stellen. Verführung ist in diesem Sinne auch die Chance der
   Veränderung, der Hoffnung, des Aufbruchs.

Kopf und Bauch

   Dennoch - vielleicht deswegen - zeigt sich in der Politik eine grosse
   Reserve gegenüber allem Verführerischen. Schon gar nicht akzeptiert
   ist verführerische Werbung durch den Staat. Er hat aufzuklären, doch
   verführen darf er nicht. Er soll nicht in die Tasten der
   Gefühlsklaviatur greifen. Das zeigte sich damals auch an den empörten
   Reaktionen gegen meine Intervention beim Militärgesetz. Ich halte
   diese Reserviertheit gegenüberemotionaler Überzeugungsarbeit nicht für
   angebracht. Sie geht davon aus, der Mensch funktioniere hauptsächlich
   nach Kriterien des Verstandes. Diese Überbewertung der vermeintlichen
   Rationalität in der Politik erlebten wir schon bei der Diskussion um
   das Frauenstimmrecht: Die Frauen, so wurde befürchtet, könnten sich
   bei Wahlen und Abstimmungen "bloss" emotional verhalten - im Gegensatz
   zu den Männern, welche selbstverständlich nach rein sachlichen
   Kriterien handeln.

   Es ist kein Ideal, sich nur gerade von der Ratio leiten zu lassen.
   Guillotine und Rassengesetze sind auch mit ihr begründet worden.
   Politische Diskussionen, Vertragsverhandlungen in der Wirtschaft oder
   zwischenmenschliche Auseinandersetzungen erfolgen vordergründig zwar
   argumentativ, also rational, sind aber in Tat undWahrheit immer auch
   von Glaubensüberzeugungen und Ideologien überlappt.

   Der Mensch, und da gehören die Männer auch dazu, besteht aber aus
   Bauch und aus Kopf, aus Gefühl und Verstand, gleichgültig, ob er
   einkaufe oder politisiere. Die Überbewertung der Rationalität in der
   Politik ist eindimensional, beschränkt, einäugig. Es gibt nicht nur
   den rationalen Diskurs mit These, Antithese und Synthese. Das Leben
   ist keine Geometriestunde und die Politik schon gar nicht. Es gibt
   auch die Rationalität der Emotionen, und es gibt die Vernunft des
   Herzens, wie Pascal es ausdrückte: "Le cur a ses raisons que la raison
   ne connaît point."

Narzissmus und Abhängigkeit

   Der Politiker muss also rational denken und handeln, darf den Kopf
   nicht verlieren, soll aber seine Emotionen wahrnehmen, zu ihnen
   stehen, sie auch berücksichtigen. Aber wenn er eine Sache umsetzt,
   dann weder allein auf der Basis der Sachlogik noch allein gemäss der
   Logik des Herzens, sondern im Zusammenspiel aller Kräfte.Das ist nicht
   leicht, denn es bedeutet, der Verführung zu widerstehen, populär zu
   entscheiden und geliebt zu werden. Was in der Erotik schön und
   angenehm ist, kann in Politik und Wirtschaft gefährlich werden. Das
   beginnt zunächst im Kleinen, bei uns selber, bei den Sorgen um uns
   undunser Image: Wie wirke ich? Es ist gerichtlich verboten zu
   vermuten, des Kanzlers Haare seien gefärbt. Die NZZ schrieb, die
   meinen seien geföhnt.Soll ich die Wiederholung dieser unwahren
   Ungeheuerlichkeit verbieten lassen? Wie würde das wohl wirken?

   Wie trete ich auf? Wie kleide ich mich? Ich gebe zu: Die Kleider- und
   Krawattenwahl vor einem Auftritt in der "Arena" nimmt mir fast ebenso
   viel Zeit wie die inhaltliche Vorbereitung. Wie gewinne ich die
   Zuhörer? Welche Worte wähle ich für welches Publikum? Wie weit darf
   der Versuch gehen, die Sprache und das Denken des Zuhörers zu erahnen,
   damit ich mit ihm eine gemeinsame Ebene für den Dialog finde? Wo
   beginnt die Anbiederung, die Unterwerfung, indem ich ihm nach dem
   Munde rede? Die "captatio benevolentiae" war schon bei den alten
   Römern nur erlaubt als Einstieg, als Türöffnung in den Raum der
   Zuhörer, nicht aber als Unterwerfung.

   Die Gefahr des Narzissmus, die Abhängigkeit des Politikers vom
   Mainstream sind erst der Anfang. Sie führen zwangsläufig zu weiteren
   Abhängigkeiten und in letzter Konsequenz zur Korruption, zunächst zu
   einer moralischen, später oft zu einer strafrechtlichen. Denken wir an
   die Berater, die Rasputins von Verwaltungsräten und
   Behördenmitgliedern, denken wir an Gefälligkeiten gegenüber Medien, um
   sie bei Laune zu halten, und denken wir an das Umgekehrte, an
   Gefälligkeiten von Medien gegenüber Politikern, um zueiner
   Indiskretion zu gelangen. Das kann korruptive, ja mafiöse Ausmasse
   annehmen. Doch dierigide Forderung nach gesellschaftlichen
   Verhältnissen ohne Elemente der Verführung wäre eine Verkennung des
   homo politicus, der condition humaine. So findet sich denn der
   Politiker immer wieder in einem eng geflochtenen Gewebe gegenseitiger
   Verführung.

Verführung zu Gut und Böse

   Ist nun aber Verführung legitim oder nicht? Zunächst ist Verführung
   ein Faktum. Wir verführen, und wir lassen uns verführen. Ob wir das
   als negativ oder positiv empfinden, hängt einerseits von unserer
   Bewertung des Zieles der Verführung ab und anderseits vom Weg, welcher
   eingeschlagen wird, und von den Mitteln, die benützt werden. Es gibt
   legitime, zweifelhafte und verwerfliche Wege. Wo ist die Grenze
   zwischen einer List und einer Manipulation? Wann kippt Charme in
   Nötigung? Das Wort Verführung meint meist beides, und deswegen
   oszilliert dieser Begriff, schwingt er hin und her zwischen legitim
   und illegitim. Verführung spielt an den Grenzen dessen, was den
   Menschen als erlaubt und von den überlieferten Normen her als richtig
   und tunlich erscheint. Wer sich mit Verführung befasst, muss sich
   darum mit Unterscheidungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen
   befassen.

   Eine der grundlegenden Unterscheidungen - so alt wie die Menschheit -
   ist der Unterschied zwischen Gut und Böse, der ethische Diskurs also.
   Die Geschichte unserer Kultur beginnt mit dem Paradies, dann folgt
   eine Verführung, dann der Sündenfall. Seither suchen wir unaufhörlich,
   aber erfolglos nach der Erkenntnis von Gut und Böse. Schon in der
   Tagespolitik gibt es den Unterschied zwischen Gut und Böse. Kampagnen
   erfolgen im Namen des Guten gegen das Böse, die Antiraucherkampagne
   oder der Kampf gegen Drogenkonsum. Alle Sucht, alle Laster sind von
   Bösem. Es gibt die gute SVP in Bern, die böse in Zürich, wobei das in
   der Zürcher SVP umgekehrt gesehen wird. Der "Tages-Anzeiger" warf der
   SP im Zusammenhang mit ihrer Stellungnahme zum Börsencrash vor, für
   sie, die SP, seien die Kleinen immer die Guten und die Grossen immer
   die Bösen, egal, was sie tun. Wer für das EMG einsteht, ist in den
   Augen der Gegner "kein richtiger, kein reiner Sozi" mehr (also böse).

   Das mögen harmlose Kleinigkeiten sein, die an Don Camillo und Peppone
   erinnern. Sie können jedoch zu Glaubensgefechten ausarten, und von da
   zu den eigentlichen Glaubenskriegen führt ein direkter Weg. Nordkorea,
   der Irak und Iran bilden gemäss Bush eine "Achse des Bösen". TonyBlair
   findet das auch. Ronald Reagan nannte früher die Sowjetunion ein
   "Imperium des Bösen". Bush und Reagan haben sich öffentlich zum
   Christentum bekannt, und beide folgten einer bestimmten Interpretation
   der christlichen Sündenlehre. Sie legt ihnen einen unerbittlichen, ja
   gnadenlosen Kampf zwischen Gut und Böse nahe. Die Krieger haben
   bedingungslos an die Reinheit des Guten zu glauben. Im Zusammenhang
   mit der Achse des Bösen ist von neuen Kreuzzügen gesprochen worden,
   von dem Europäer Berlusconi. Wieder wollen Ritter ohne Furcht und
   Tadel die Welt erlösen von allem Bösen.

Der heilige Glaube

   Abgesehen davon, dass diese Kreuzzüge schon einmal verloren wurden:
   Lehren uns die Erfahrungen mit den Religionskriegen nicht, dass
   Kreuzzüge grundsätzlich verwerflich sind? All die Religionskriege
   brachten und bringen bis heute unendlich viel Leid und konnten kaum je
   von innen heraus, von religiösen Führern, überwunden werden. Meist
   haben erst politische Herrscher sie beendet, Politiker, die Toleranz
   aushandelten oder verordneten, etwa 1598 im Edikt von Nantes nach dem
   Hugenottenkrieg.

   Der bedingungslose Glaube an das Gute und der Anspruch, auf der guten
   Seite zu sein, führen entweder zu einer Mauer zwischen Gut und Böse -
   oder zum Krieg. Der Gute und der Böse spielen nicht miteinander Schach
   und anerkennen keine Spielregeln. Sie tauschen auch nicht die tieferen
   Gründe miteinander aus, warum sie je auf der einen oder anderen Seite,
   genauer, warum sie beide auf der guten Seite zu sein glauben. Jeder
   ist auf der guten Seite. Jeder ortet das Böse auf der anderen Seite,
   den Alkohol und die sexuelle Freizügigkeit, die andere
   Gesellschaftsordnung, den anderen Glauben. Jeder glaubt an das Gute.

   Mit dem Glauben hat denn auch der Unterschied zwischen Gut und Böse
   sehr viel zu tun. Es war das bedingungslose Entweder-oder zwischen
   Sozialismus und Kapitalismus, welches zum Eisernen Vorhang und zur
   Berliner Mauer führte. Es ist der heilige Glaube, welcher stets zu
   ausweglosen Feindschaften, zum Krieg und zur Gewalt führt, der Glaube,
   jemand, eine Religion, eine Weltanschauung, eine Politik sei
   ausschliesslich böse und die andere sei ausschliesslich gut.
   Fromm-verblendeter Fanatismus betrachtet Menschen als Werkzeuge, als
   Instrumente, als Transportmittel für Selbstmordanschläge. Dort, wo der
   Mensch als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, haben alle Totalitarismen
   ihre Wurzeln, und zwar in allen Kulturen. Das ist der gemeinsame
   Nenner von Fundamentalismus, Rassismus und Nationalismus.

Vom Bösen ist auch im Guten

   Wissen wir, was das Gute ist, was das Böse ist? Gibt es die scharfe
   Trennung? Vom Bösen ist auch im Guten, und vom Guten ist im Bösen,
   denn in uns Menschen gibt es das Gute nicht absolut, und auch das Böse
   existiert nicht in Reinkultur. Es gibt auch, wie Mephisto sich
   ausdrückte, jene Kraft, die stets das Böse will undstets das Gute
   schafft. Und es gibt auch die Bereitschaft, sich von der anderen Seite
   - also meist vom Bösen, denn wer steht nicht zunächst mal auf der
   guten Seite? - faszinieren zu lassen.

   "Liebe deine Feinde!" Heisst das nicht: Versuche, dich hineinzudenken,
   hineinzufühlen in die Situation der anderen, zu begreifen, warum sie
   so denken und fühlen? Wenn wir von einem Dialog der Kulturen sprechen
   und ihn ernsthaft führen wollen, müssen wir auch anerkennen, dass
   inanderen Kulturen andere Werte gelten. Wir sollten Unterschiede
   zunächst einmal zu erahnen unddann zu begreifen versuchen, bevor wir
   uns in Belehrungen ergehen. Diese werden nämlich bald einmal imperativ
   und dann imperialistisch. Und nicht selten versteigen sie sich am Ende
   zur Anmassung, zur Anmassung von Dingen und Entscheidungen, die unsere
   nicht sind. Der Apfel von Adam und Eva steht nicht für Erotik oder
   Sex, sondern für Anmassung.

Sich mit dem Besseren begnügen

   Die angemasste Erkenntnis von Gut und Böse verführt dazu, sich als
   Herren über Gut und Böse zu fühlen, Götter zu spielen. Der Kampf gegen
   das Böse ist die gefährliche Verführung gut gemeinter Politik. Der
   verheerendste Glaube ist, es sei gut, das Böse ausrotten zu wollen.
   Das Böse ausrotten wollen heisst in letzter Konsequenz, die Freiheit
   auszurotten. Diese Erkenntnis, die Warnung davor, Richter über Böse
   und Gut zu spielen, ist nicht gleichzusetzen mit einem pazifistischen
   Appell gegen Terrorismusbekämpfung. So, wie die damalige
   Nato-Intervention im Balkan sehr wohl moralisch zu legitimieren war,
   ist der Kampf gegen Terror auch eine Notwendigkeit für Menschlichkeit
   in allen Kulturen und Religionen. Ein "Kampf gegen das Böse" mit
   seiner absoluten moralischen Motivation und Überheblichkeit ist jedoch
   etwas anderes und hat auch andere Konsequenzen.

   Nicht die reine Güte wollen wir anstreben, weil wir es nicht können,
   sondern wir müssen zu unserer Unvollkommenheit stehen. Wir sind
   unseremWesen nach fehlerhaft und müssen daher fehlerfreundlich sein.
   Wir können das Gute nicht erreichen; wir müssen uns mit dem Besseren
   begnügen. Diese Erkenntnis könnte zumindest eine Voraussetzung für
   Frieden sein. In das Paradies gelangen wir nicht mehr. Der Apfel ist
   gepflückt. Aber wenn wir uns dem paradiesischen Frieden wenigstens
   nähern wollen, sollten wir uns vor dem Biss in den Apfel vom Baum der
   Erkenntnis des Guten und des Bösen hüten. Es bleibt uns die
   Gewissheit, dass er von dort ja doch wieder herausgeholt wird. Denn
   ewig bleibt die Verführung.




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