Das Böse, das Gute, die Politik
Über die Grenze legitimer und schädlicher Verführung in der Politik
Die Verführung ist etwas Doppelbödiges - vor allem in der Politik: Sie
kann ein legitimes Mittel sein, um seine Ziele durchzusetzen, sie kann
aber auch in schädlicher Weise manipulativ sein. Gefährlich wird sie
dort, wo ein Denken, das nur mit den Kategorien von Gut und Böse
arbeitet, die Auseinandersetzungen prägt.
Von Bundesrat Moritz Leuenberger
Wir scheuen uns, dazu zu stehen, dass wir uns gerne verführen lassen.
Geht es um das Gegenstück der Verführung, nämlich um Führung, siehtdas
ganz anders aus: Wer für eine Exekutive kandidiert, muss sich seiner
Führungsqualitäten rühmen, die er in der Wirtschaft, im Sport oder im
Militär erworben hat. Sonst bleibt er chancenlos. Mütter, die in die
Politik einsteigen wollen, müssen verzweifelt schildern, wie
Kindererziehung und die Führung eines Haushaltes ebenso harte
Führungsarbeit seien wie die Leitung eines Artillerieregimentes oder
die Betreuung einer erschöpften Fussballmannschaft. Aktive Führung
wird verlangt. Sie ist ein positives Markenzeichen. Führungsschwäche
dagegen ist wohl einer der furchtbarsten Makel, die sich ein Politiker
vorwerfen lassen muss.
Eigentlich ist das merkwürdig in einer Demokratie, und erst recht in
einer direkten Demokratie, wo doch das Volk und nicht der Politiker
der Souverän ist. Braucht ein Souverän Führer? Das letzte Wort hat
doch das Volk, betreffe dies nun den Uno-Beitritt oder die Höhe der
Kehrichtgebühren. Die Politiker sollen einen möglichenWeg vorbereiten,
Kompromisse suchen an runden Tischen, mit Vernehmlassungen, sie sollen
technische Fragen aufarbeiten, den Weg zeigen, der ihrer Meinung nach
zu gehen ist. Aber ob dieser Weg dann auch beschritten wird,
entscheidet das Volk. Die Führungsarbeit beschränkt sich auf die
Rodungsarbeiten, die Zubereitung des Pfades. Führen heisst in der
Politik meist nicht in erster Linie entscheiden. Die Entscheidung
fällt der Souverän.
Einen Weg suchen heisst allerdings auch die Richtung bestimmen.
"Richtung" und "richtig" sind dieselben Wörter, und das zeigt schon
die Gefahr, welche mit "führen" verbunden ist. Wissen denn diejenigen,
die führen, den richtigenWeg? Oder massen sie sich da etwas an?
Dennoch, Führungsarbeit muss geleistet werden. Niemand, der Mühe hätte
mit Führung als Prinzip in der Politik.
Verführen - falsch führen?
Wie aber steht es mit der Verführung? Um zu ihr zu stehen, braucht es
doch einige rechtfertigende Anläufe. Der Brockhaus definiert die
Verführung kurz und bündig als eine kriminelle Tat. Der Duden ist
etwas differenzierter, weist aber dennoch vorwiegend auf ihren
pejorativen Gehalt. Sie bestehe darin, jemanden zu etwas Unklugem,
Unrechtem oder Unerlaubtem zu bringen.Der negative Beigeschmack von
"verführen" entspricht anderen Wörtern mit der Vorsilbe "ver-", also
sich versprechen, verdrehen (verkehren sage ich als Verkehrsminister
besser nicht, sonst verstimme ich wieder einige . . .). Es wird damit
ein falscher Gebrauch ausgedrückt. Verführen hiesse also schlecht
führen, falsch führen.
Wen wundert es da, dass es keinen Politiker gibt, der von sich sagen
würde, er wolle und könne seine Wähler und Wählerinnen verführen? Und
dennoch: Es gibt, wie überall, auch in der Politik Verführer und
Verführte. Wie immer bei negativ besetzten Eigenschaften entdecken wir
sie zunächst bei den anderen, ich zum Beispiel bei den "Populisten".
Böse Verführer - die Populisten
An die Populisten geht der Vorwurf, das Volk zu verführen. Populismus
ist genau gesehen eine Erscheinung der gegenseitigen Verführung: Der
Populist lässt sich durch eine Stimmung "im Volke" verführen, nimmt
dessen unartikulierte Wünsche und Verwünschungen auf, formuliert sie
zu eigenen Parolen und lässt sich dann tragen von den begeisterten
Massen. Er verleiht denjenigen eine Sprache, die ihre Gefühle nicht
ausdrücken können, spricht aus, was gefühlt wird, und verführt so
seinerseits wiederum "das Volk", indem er dieses glauben lässt, es
gebe in der Tat einfache Lösungen für komplexe Probleme und er, der
Verführer, kenne sie. Er verschweigt oder verdrängt, dass seine Lösung
nicht machbar ist, er unterdrückt die ganze Wahrheit zugunsten der
halben Wahrheit, die bequemer und billiger ist. Er hat mit diesem
Vorgehen Erfolg, und so kann sich "das Volk" wiederum mit dem Starken
und Erfolgreichen identifizieren. Verführer und Verführte teilen sich
den narzisstischen Gewinn.
Populismus hat seinen negativen Beigeschmack wohl daher, dass der
Populist sich ständig auf das Volk beruft und ihm und seiner bereits
festgelegten Meinung hinterherrennt. Der Populist will nur dorthin
führen, wo er annimmt, dass sich das Volk bereits befinde. Und das ist
nicht Führung, sondern Anpassung. Derjenige, der führt, riskiert im
Gegensatz zum Populisten Unpopularität, weil sein Ziel unter Umständen
nicht identisch ist mit demjenigen "des Volkes" und er darum viel
Überzeugungsarbeit leisten muss.
Aber wer ist denn eigentlich "das Volk"? Gehört der Verführer auch zum
Volk? Ganz alle gehören ja nicht dazu. Die Linken und Nettenjedenfalls
nicht. Die Milliardäre? Die Kunstschaffenden? Und die Ausländer?
Gehören die Politiker dazu? Oder gehören die zur Classe politique?
Diese Fragen zeigen, dass etwas nicht aufgeht, wenn man sich auf "das
Volk" beruft. Offenbar gibt es da doch einen Graben zwischen Volk und
Verführer, zwischen populus und Populist. Dieses Volk sind offenbar
nicht die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, nicht der Souverän in
unserer Demokratie, sondern es ist blosse Legitimationsbasis für die
Verführer und zugleich die verführte Masse.
Gibt es gute Verführer?
Weil Verführung immer etwas Doppeldeutiges an sich hat, versuchte ich
auch ein positives Beispiel zu finden. Als guter Verführer kam mir
dabei spontan der Bundesrat in den Sinn und dasfolgende Beispiel:
Militärgesetzvorlage 2001. Abstimmungsgetöse. Die Rechte war dagegen,
einkleiner Teil der Linken ebenfalls. Als sozialdemokratischer
Bundespräsident wandte ich mich gegen die diffamierende Kampagne der
Rechten und setzte die Kampagne mit der Nein-Parole gleich. Ich
errichtete der zweifelnden Linken so eine moralische Barriere, für die
Vorlage zu stimmen, weil sie sich sonst im Lager der (rechten) Gegner
befunden hätte. Der Appell war aber eine verführerische Verkürzung,
denn die linken Gegner führten eine eigene Kampagne.
Diese Intervention scheint für die knappe Annahme der Vorlage
entscheidend gewesen zu sein,eine Verführung zu einem, wie ich meine,
richtigen und guten Resultat also. Das wurde allerdings heftig als
unstatthafte Manipulation angeprangert. Wäre es eine Manipulation
gewesen, wäre das Vorgehen verwerflich, weil der Manipulator sein
Gegenüber als Manövriermasse betrachtet. Der Verführer jedoch sieht in
ihm einen Spielpartner. Als Partner habe ich vor einem Jahr die Linke
auch betrachtet, welche im Begriff war, sich in das falsche Bett zu
legen.
Eine Manipulation ist das also nicht gewesen. War es eine Verführung?
Ein Verführer bringt ja sein "Opfer" definitionsgemäss zu etwas
Unerlaubtem, Verwerflichem. Kann denn ein Politiker aus seiner eigenen
Sicht ein Verführer sein? Er selber hat ja nie ein unmoralisches Ziel
- das sehen nur seine Gegner so. Allenfalls gesteht er, eine List
anzuwenden. Die List gehört ja seit je zur Auszeichnung eines guten
Generals. Warum sollte sie also nicht auch einen guten Politiker
auszeichnen? Die aktive Verführung erfolgt in aller Regel intuitiv, im
Glauben, für die eigene gute Sache alle Register, auch die
emotionalen, ziehen zu dürfen, um dem Guten zum Durchbruch zu
verhelfen. Vielleicht auch deswegen bezeichnet sich kaum einer als
Verführer, sondern versteht sich als Führer mit einem legitimen
Anspruch.
Verführung zum Traum
Verführung als solche ist kaum Gegenstand tagespolitischer
Diskussionen, ausser eben als Straftatbestand oder in Zusammenhang mit
Radio- und Fernsehwerbung. Gegen sie wurde im Parlament argumentiert,
sie verführe und solle daher nicht oder nur in engsten Grenzen
zugelassen werden. Werbung verleite zu Bedürfnissen,die die verführten
Konsumentinnen und Konsumenten im Grunde genommen gar nicht hätten.
Diese Argumentation, Werbung schaffe künstlich Bedürfnisse und
verführe jemanden dazu, Dinge zu konsumieren, die er eigentlich gar
nicht wolle, übersieht die Bereitschaft der Menschen, sich
Suggestionen hinzugeben, den Erfahrungshorizont auszureizen, etwas
Neues kennen zu lernen,kurz, sich verführen zu lassen. Es gibt die
Bereitschaft, sich einen Weg zum schnellen Geld "ebnern" zu lassen mit
Visionen der besonderen Art. Geld und Reichtum sind verführerische
Kräfte, welche dazu verleiten können, die üblichen Normen unserer
Existenz zu überschreiten.Aber da gehören auch Essen und Trinken,
Schönheit und Anerkennung, Eitelkeit und Geltungsdrang dazu. Ohne sie
wäre unser Leben arm und reizlos, auch wenn all dies zur Sucht werden
und die Menschen zerfressen kann.
Jede Verführung spricht etwas in uns an, das uns fehlt, eine
Sehnsucht, einen Traum, den wir gerne verwirklichen möchten, eine
Grenze, die wir überschreiten möchten. Das kann auch eine Utopie sein.
Grenzen zu sprengen, die Grenzen zwischen Volk und Aristokratie, die
Grenzen der Apartheid, des Eisernen Vorhanges, das waren zunächst
Visionen, zu denen kritische politische Anführer verführt haben, denn
das jeweils herrschende System erlaubte nicht, diese Grenzen in Frage
zu stellen. Verführung ist in diesem Sinne auch die Chance der
Veränderung, der Hoffnung, des Aufbruchs.
Kopf und Bauch
Dennoch - vielleicht deswegen - zeigt sich in der Politik eine grosse
Reserve gegenüber allem Verführerischen. Schon gar nicht akzeptiert
ist verführerische Werbung durch den Staat. Er hat aufzuklären, doch
verführen darf er nicht. Er soll nicht in die Tasten der
Gefühlsklaviatur greifen. Das zeigte sich damals auch an den empörten
Reaktionen gegen meine Intervention beim Militärgesetz. Ich halte
diese Reserviertheit gegenüberemotionaler Überzeugungsarbeit nicht für
angebracht. Sie geht davon aus, der Mensch funktioniere hauptsächlich
nach Kriterien des Verstandes. Diese Überbewertung der vermeintlichen
Rationalität in der Politik erlebten wir schon bei der Diskussion um
das Frauenstimmrecht: Die Frauen, so wurde befürchtet, könnten sich
bei Wahlen und Abstimmungen "bloss" emotional verhalten - im Gegensatz
zu den Männern, welche selbstverständlich nach rein sachlichen
Kriterien handeln.
Es ist kein Ideal, sich nur gerade von der Ratio leiten zu lassen.
Guillotine und Rassengesetze sind auch mit ihr begründet worden.
Politische Diskussionen, Vertragsverhandlungen in der Wirtschaft oder
zwischenmenschliche Auseinandersetzungen erfolgen vordergründig zwar
argumentativ, also rational, sind aber in Tat undWahrheit immer auch
von Glaubensüberzeugungen und Ideologien überlappt.
Der Mensch, und da gehören die Männer auch dazu, besteht aber aus
Bauch und aus Kopf, aus Gefühl und Verstand, gleichgültig, ob er
einkaufe oder politisiere. Die Überbewertung der Rationalität in der
Politik ist eindimensional, beschränkt, einäugig. Es gibt nicht nur
den rationalen Diskurs mit These, Antithese und Synthese. Das Leben
ist keine Geometriestunde und die Politik schon gar nicht. Es gibt
auch die Rationalität der Emotionen, und es gibt die Vernunft des
Herzens, wie Pascal es ausdrückte: "Le cur a ses raisons que la raison
ne connaît point."
Narzissmus und Abhängigkeit
Der Politiker muss also rational denken und handeln, darf den Kopf
nicht verlieren, soll aber seine Emotionen wahrnehmen, zu ihnen
stehen, sie auch berücksichtigen. Aber wenn er eine Sache umsetzt,
dann weder allein auf der Basis der Sachlogik noch allein gemäss der
Logik des Herzens, sondern im Zusammenspiel aller Kräfte.Das ist nicht
leicht, denn es bedeutet, der Verführung zu widerstehen, populär zu
entscheiden und geliebt zu werden. Was in der Erotik schön und
angenehm ist, kann in Politik und Wirtschaft gefährlich werden. Das
beginnt zunächst im Kleinen, bei uns selber, bei den Sorgen um uns
undunser Image: Wie wirke ich? Es ist gerichtlich verboten zu
vermuten, des Kanzlers Haare seien gefärbt. Die NZZ schrieb, die
meinen seien geföhnt.Soll ich die Wiederholung dieser unwahren
Ungeheuerlichkeit verbieten lassen? Wie würde das wohl wirken?
Wie trete ich auf? Wie kleide ich mich? Ich gebe zu: Die Kleider- und
Krawattenwahl vor einem Auftritt in der "Arena" nimmt mir fast ebenso
viel Zeit wie die inhaltliche Vorbereitung. Wie gewinne ich die
Zuhörer? Welche Worte wähle ich für welches Publikum? Wie weit darf
der Versuch gehen, die Sprache und das Denken des Zuhörers zu erahnen,
damit ich mit ihm eine gemeinsame Ebene für den Dialog finde? Wo
beginnt die Anbiederung, die Unterwerfung, indem ich ihm nach dem
Munde rede? Die "captatio benevolentiae" war schon bei den alten
Römern nur erlaubt als Einstieg, als Türöffnung in den Raum der
Zuhörer, nicht aber als Unterwerfung.
Die Gefahr des Narzissmus, die Abhängigkeit des Politikers vom
Mainstream sind erst der Anfang. Sie führen zwangsläufig zu weiteren
Abhängigkeiten und in letzter Konsequenz zur Korruption, zunächst zu
einer moralischen, später oft zu einer strafrechtlichen. Denken wir an
die Berater, die Rasputins von Verwaltungsräten und
Behördenmitgliedern, denken wir an Gefälligkeiten gegenüber Medien, um
sie bei Laune zu halten, und denken wir an das Umgekehrte, an
Gefälligkeiten von Medien gegenüber Politikern, um zueiner
Indiskretion zu gelangen. Das kann korruptive, ja mafiöse Ausmasse
annehmen. Doch dierigide Forderung nach gesellschaftlichen
Verhältnissen ohne Elemente der Verführung wäre eine Verkennung des
homo politicus, der condition humaine. So findet sich denn der
Politiker immer wieder in einem eng geflochtenen Gewebe gegenseitiger
Verführung.
Verführung zu Gut und Böse
Ist nun aber Verführung legitim oder nicht? Zunächst ist Verführung
ein Faktum. Wir verführen, und wir lassen uns verführen. Ob wir das
als negativ oder positiv empfinden, hängt einerseits von unserer
Bewertung des Zieles der Verführung ab und anderseits vom Weg, welcher
eingeschlagen wird, und von den Mitteln, die benützt werden. Es gibt
legitime, zweifelhafte und verwerfliche Wege. Wo ist die Grenze
zwischen einer List und einer Manipulation? Wann kippt Charme in
Nötigung? Das Wort Verführung meint meist beides, und deswegen
oszilliert dieser Begriff, schwingt er hin und her zwischen legitim
und illegitim. Verführung spielt an den Grenzen dessen, was den
Menschen als erlaubt und von den überlieferten Normen her als richtig
und tunlich erscheint. Wer sich mit Verführung befasst, muss sich
darum mit Unterscheidungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen
befassen.
Eine der grundlegenden Unterscheidungen - so alt wie die Menschheit -
ist der Unterschied zwischen Gut und Böse, der ethische Diskurs also.
Die Geschichte unserer Kultur beginnt mit dem Paradies, dann folgt
eine Verführung, dann der Sündenfall. Seither suchen wir unaufhörlich,
aber erfolglos nach der Erkenntnis von Gut und Böse. Schon in der
Tagespolitik gibt es den Unterschied zwischen Gut und Böse. Kampagnen
erfolgen im Namen des Guten gegen das Böse, die Antiraucherkampagne
oder der Kampf gegen Drogenkonsum. Alle Sucht, alle Laster sind von
Bösem. Es gibt die gute SVP in Bern, die böse in Zürich, wobei das in
der Zürcher SVP umgekehrt gesehen wird. Der "Tages-Anzeiger" warf der
SP im Zusammenhang mit ihrer Stellungnahme zum Börsencrash vor, für
sie, die SP, seien die Kleinen immer die Guten und die Grossen immer
die Bösen, egal, was sie tun. Wer für das EMG einsteht, ist in den
Augen der Gegner "kein richtiger, kein reiner Sozi" mehr (also böse).
Das mögen harmlose Kleinigkeiten sein, die an Don Camillo und Peppone
erinnern. Sie können jedoch zu Glaubensgefechten ausarten, und von da
zu den eigentlichen Glaubenskriegen führt ein direkter Weg. Nordkorea,
der Irak und Iran bilden gemäss Bush eine "Achse des Bösen". TonyBlair
findet das auch. Ronald Reagan nannte früher die Sowjetunion ein
"Imperium des Bösen". Bush und Reagan haben sich öffentlich zum
Christentum bekannt, und beide folgten einer bestimmten Interpretation
der christlichen Sündenlehre. Sie legt ihnen einen unerbittlichen, ja
gnadenlosen Kampf zwischen Gut und Böse nahe. Die Krieger haben
bedingungslos an die Reinheit des Guten zu glauben. Im Zusammenhang
mit der Achse des Bösen ist von neuen Kreuzzügen gesprochen worden,
von dem Europäer Berlusconi. Wieder wollen Ritter ohne Furcht und
Tadel die Welt erlösen von allem Bösen.
Der heilige Glaube
Abgesehen davon, dass diese Kreuzzüge schon einmal verloren wurden:
Lehren uns die Erfahrungen mit den Religionskriegen nicht, dass
Kreuzzüge grundsätzlich verwerflich sind? All die Religionskriege
brachten und bringen bis heute unendlich viel Leid und konnten kaum je
von innen heraus, von religiösen Führern, überwunden werden. Meist
haben erst politische Herrscher sie beendet, Politiker, die Toleranz
aushandelten oder verordneten, etwa 1598 im Edikt von Nantes nach dem
Hugenottenkrieg.
Der bedingungslose Glaube an das Gute und der Anspruch, auf der guten
Seite zu sein, führen entweder zu einer Mauer zwischen Gut und Böse -
oder zum Krieg. Der Gute und der Böse spielen nicht miteinander Schach
und anerkennen keine Spielregeln. Sie tauschen auch nicht die tieferen
Gründe miteinander aus, warum sie je auf der einen oder anderen Seite,
genauer, warum sie beide auf der guten Seite zu sein glauben. Jeder
ist auf der guten Seite. Jeder ortet das Böse auf der anderen Seite,
den Alkohol und die sexuelle Freizügigkeit, die andere
Gesellschaftsordnung, den anderen Glauben. Jeder glaubt an das Gute.
Mit dem Glauben hat denn auch der Unterschied zwischen Gut und Böse
sehr viel zu tun. Es war das bedingungslose Entweder-oder zwischen
Sozialismus und Kapitalismus, welches zum Eisernen Vorhang und zur
Berliner Mauer führte. Es ist der heilige Glaube, welcher stets zu
ausweglosen Feindschaften, zum Krieg und zur Gewalt führt, der Glaube,
jemand, eine Religion, eine Weltanschauung, eine Politik sei
ausschliesslich böse und die andere sei ausschliesslich gut.
Fromm-verblendeter Fanatismus betrachtet Menschen als Werkzeuge, als
Instrumente, als Transportmittel für Selbstmordanschläge. Dort, wo der
Mensch als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, haben alle Totalitarismen
ihre Wurzeln, und zwar in allen Kulturen. Das ist der gemeinsame
Nenner von Fundamentalismus, Rassismus und Nationalismus.
Vom Bösen ist auch im Guten
Wissen wir, was das Gute ist, was das Böse ist? Gibt es die scharfe
Trennung? Vom Bösen ist auch im Guten, und vom Guten ist im Bösen,
denn in uns Menschen gibt es das Gute nicht absolut, und auch das Böse
existiert nicht in Reinkultur. Es gibt auch, wie Mephisto sich
ausdrückte, jene Kraft, die stets das Böse will undstets das Gute
schafft. Und es gibt auch die Bereitschaft, sich von der anderen Seite
- also meist vom Bösen, denn wer steht nicht zunächst mal auf der
guten Seite? - faszinieren zu lassen.
"Liebe deine Feinde!" Heisst das nicht: Versuche, dich hineinzudenken,
hineinzufühlen in die Situation der anderen, zu begreifen, warum sie
so denken und fühlen? Wenn wir von einem Dialog der Kulturen sprechen
und ihn ernsthaft führen wollen, müssen wir auch anerkennen, dass
inanderen Kulturen andere Werte gelten. Wir sollten Unterschiede
zunächst einmal zu erahnen unddann zu begreifen versuchen, bevor wir
uns in Belehrungen ergehen. Diese werden nämlich bald einmal imperativ
und dann imperialistisch. Und nicht selten versteigen sie sich am Ende
zur Anmassung, zur Anmassung von Dingen und Entscheidungen, die unsere
nicht sind. Der Apfel von Adam und Eva steht nicht für Erotik oder
Sex, sondern für Anmassung.
Sich mit dem Besseren begnügen
Die angemasste Erkenntnis von Gut und Böse verführt dazu, sich als
Herren über Gut und Böse zu fühlen, Götter zu spielen. Der Kampf gegen
das Böse ist die gefährliche Verführung gut gemeinter Politik. Der
verheerendste Glaube ist, es sei gut, das Böse ausrotten zu wollen.
Das Böse ausrotten wollen heisst in letzter Konsequenz, die Freiheit
auszurotten. Diese Erkenntnis, die Warnung davor, Richter über Böse
und Gut zu spielen, ist nicht gleichzusetzen mit einem pazifistischen
Appell gegen Terrorismusbekämpfung. So, wie die damalige
Nato-Intervention im Balkan sehr wohl moralisch zu legitimieren war,
ist der Kampf gegen Terror auch eine Notwendigkeit für Menschlichkeit
in allen Kulturen und Religionen. Ein "Kampf gegen das Böse" mit
seiner absoluten moralischen Motivation und Überheblichkeit ist jedoch
etwas anderes und hat auch andere Konsequenzen.
Nicht die reine Güte wollen wir anstreben, weil wir es nicht können,
sondern wir müssen zu unserer Unvollkommenheit stehen. Wir sind
unseremWesen nach fehlerhaft und müssen daher fehlerfreundlich sein.
Wir können das Gute nicht erreichen; wir müssen uns mit dem Besseren
begnügen. Diese Erkenntnis könnte zumindest eine Voraussetzung für
Frieden sein. In das Paradies gelangen wir nicht mehr. Der Apfel ist
gepflückt. Aber wenn wir uns dem paradiesischen Frieden wenigstens
nähern wollen, sollten wir uns vor dem Biss in den Apfel vom Baum der
Erkenntnis des Guten und des Bösen hüten. Es bleibt uns die
Gewissheit, dass er von dort ja doch wieder herausgeholt wird. Denn
ewig bleibt die Verführung.
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