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www.rhetorik.ch aktuell: (7. Juli 2002)


Das Print-Duell

Vergleichen Sie auch: "Wer wird Bundeskanzler" und "Der dritte Kandidat".



Das Print-Duell
  • Es gilt nur das gesprochene Wort. Inhalt und Argument dominieren.
  • Im Text werden die "Ähs" und "Öhs" herausgenommen.
  • Kameras waren bei den Aufnahmen nicht zugelassen. Die Aussagen wurden aber auf Tonband mitgeschnitten.
  • Für das Publikum fehlen Bild und Ton. Die Aussagen werden nur gedruckt.
  • Es dürfen nachträglich kein Gedanken hinzugefügt oder weggenommen werden. Auch launige Luftblasen bleiben im Text.


Im "Bild"-Interview, das von 11 Millionen Lesern eingesehen werden konnte, standen für jede Antwort nur 60 Sekunden zur Verfügung.
Auf dem Weg zum Interview wurden beide Kandidaten mit derselben Frage konfrontiert:

Journalist: Stoiber Kommentar
"Haben Sie geübt für's Duell?" "Ach -äh- wenn man 20 Jahre lang -äh- politische Auseinandersetzungen -äh- führen muss---und gerne führt -äh-. Das gilt ja auch für meine Kontrahenten." Herr Stoiber hat seine Hausaufgaben noch nicht gemacht. Es gäbe einen einfachen Rat, so dass die Äh's kein Problem mehr sind.
Journalist: Schröder Kommentar
"Wie haben Sie sich vorbereitet auf das Duell" "Gar nicht - Ich wollte es eigentlich spontan machen - wie es so meine Art ist." Wer glaubt, es gehe immer ohne Vorbereitung, könnte bald eine böse Überraschung erleben. Gut möglich, dass Schröder aus taktischen Gründen seine Vorbereitungsarbeit zu diesem Anlass verschwiegen hat.

Kommentar von Hans-M. Hofmann zum nachfolgenden Printduell im "Bild am Sonntag":
Am 22.9.02 wird die Bevölkerung Deutschlands ihre neue Regierung wählen. Wesentliche Chancen, in dieser neuen Regierung vertreten zu sein, können sich derzeit fünf Parteien ausrechnen, nämlich SPD, CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/ die Grünen und PDS.

Aller Voraussicht nach wird entweder die SPD oder die CDU/CSU durch diese Wahl die stärkste Partei im Bundestag, und so den Kanzler der Regierung für die nächste Legislaturperiode von 4 Jahren stellen.

Dieser Kanzler bestimmt dann die Richtlinien der deutschen Politik, d.h. er gibt die Leitlinien der von seiner Regierung gemachten Politik vor. Diese werden sich an den Vorgaben und Wünschen seiner Partei, seiner Minister und seiner eigenen (und zusätzlich, aller Voraussicht nach, auch an denen eines Koalitionspartners, der zur Mehrheit gebraucht wird) einerseits und an den Möglichkeiten, im wesentlichen den finanziellen, orientieren müssen.

Obwohl der künftige Kanzler also nicht quasi per Ordre de Mufti regieren kann, will ich im Folgenden diese Feinheit ausser Acht lassen. Und unterstellen, dass alles vom Kanzler abhängt.

Auf den zahlreichen Probleme warten, die dringend seit längerem gelöst werden müssen. Nehmen wir einige als Beispiele, um die Schwere der Last anzudeuten, die auf den Neuen wartet: Er muss die Arbeitslosigkeit abbauen, neue Arbeitsplätze schaffen, die Renten sichern, die ausgefeurten Kosten des Gesundheitswesens unter Kontrolle bringen, die Bundeswehr für ihre neuen Aufgaben (über die zu diskutieren ist) mit wesentlich mehr Mitteln ausstatten, die Zuwanderung regeln, den Zusammenschluss Europas weiter ausbauen, neue Länder in die Europäische Gemeinschaft eingliedern, die Beamten und Politiker weiterhin gut versorgen, die Bauern mit Zuschüssen unterstützen, Randgruppen integrieren, die Wirtschaft fördern, den Standort Deutschland konkurrenzfähig halten, Steuern reduzieren, den deutschen Osten weiter päppeln, die Umwelt schützen und entlasten, etc. etc.

Trotz dieser überwältigenden und mit Sicherheit nicht für alle befriedigend zu lösenden Aufgaben des neuen Kanzlers, gibt es mindestens zwei Kandidaten, die für den Posten in Frage kommen: Der amtierende Bundeskanzler Dr. Schröder würde gerne weiter machen, und der bayrische Ministerpräsident Dr. Stoiber würde gerne zeigen, dass er es auch, sogar besser kann.

Die Wähler erwartet die schwere Aufgabe, ihre Stimme dem zu geben, der nicht nur für Deutschland, sondern vor allem für den jeweils seine Stimme Vergebenden der Bessere ist d.h. "mehr bringt" für ihn persönlich. Und natürlich Entscheidung, welche Partei die besseren Voraussetzungen und die höhere Gewähr für eine glückliche Zukunft ohne materiellen Sorgen und Nöte bietet.

Da der einzelne Wähler den Kanzler sowieso nicht wählen kann, sondern sich für eine Partei und deren Kandidaten entscheiden muss, aus deren Mitte der neue Kanzler kommt, läge es eigentlich nahe, wie einst dem Wähler über Parteiprogramme ausführlich nahe zu bringen, warum diese und keine andere Partei die Beste für ihn sei. So war das einmal bei früheren Wahlen.

Doch weil, wie viel anderes Gute, die Zuspitzung der Wahl auf die Person des Parteiführers (bezw. des Kandidaten) aus den USA auch zu uns gekommen ist, wird so getan, als sei der Kanzlerkandidat das Wichtigste und Wahlentscheidende, nicht die Partei. Und so entstand die Mode der Auseinandersetzung der (beiden) Kanzlerkandidaten im Fernsehen. Und nun ein weiteres Novum, auch der Bild-Zeitung, bezw. der BamS.

Was wäre Deutschland ohne die Bildzeitung, ohne BamS gar, was wäre es ohne deren nimmermüden Journalisten! Die haben sich die Aufgabe gestellt, dem Wahlvolke die beiden Kandidaten, den regierenden Kanzler und seinen Herausforderer, durch intelligente, tiefschürfende und bohrende Fragen aller Verkleidungen zu entblössen und ihren innersten Kern dem Auge des Wählers blank zu legen. Durch ein sogenanntes Duell (Zweikampf, meist mit Pistolen oder Säbeln), nach dem Wunsch des Kanzlers aber nicht mit Säbeln, sondern mit dem Degen.

Selbstverständlich ist rein sachlich nichts überflüssiger als dieses "Duell". Und ebenso selbstverständlich sollte es auch sein, dass nichts überflüssiger ist, als dass die beiden Kandidaten alle möglichen Zahlen, Sätze, Namen und Pläne kennen, dazu hat der Kanzler wenn es Ernst wird, Legionen von Beamten, Fachleuten und Beratern. Aber es kommt nun mal, so meinen die Wahlstrategen der Parteien, bei Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller gut an, wenn ein Bewerber um das Kanzleramt eindrucksvoll Einzelheiten von sich geben kann.

Und, wiederum selbstverständlich haben sich beide Duellanten vorher gründlich von ihren Beratern und Sekundanten vorbereiten und rüsten lassen. Sodass, gäbe es einen Sieger in diesem Duell, eigentlich nicht den Kandidaten, sondern seiner Beraterschar der Lorbeer gebührt.

Beugen wir uns dem Gebot der Strategen. Betrachten wir die Leistung der beiden Bewerber, im folgenden der Einfachheit halber nur noch "Kanzler" und "Herausforderer" genannt. Wer ist besser? An sich, aber auch für Deutschland? Keine einfache Frage, keine einfache Antwort.

Offensichtlich ist nur, dass der Herausforderer mehr Herzblut in dieses Duell eingebracht hat, mehr noch daran glaubt, Dinge besser zu wissen und besser zu machen zu können, als der Kanzler. Der Herausforderer wirkt ehrlicher, wenn auch nervös ("Sie müssen mir bitte zuhören."), zeiht sogar den Kanzler der Lüge (was dieser, diesmal wirklich lügend, damit kontert, dass er nie die Unwahrheit rede). Der Herausforderer hat sich Zahlen und Einzelheiten besser eingeprägt als der Kanzler, der seinerseits mehr den überlegenen Staatsmann gibt. Die Leser profitieren davon wie in diesem Gesprächsabschnitt: Kanzler: "Sie haben ja nun lange genug geredet." Herausforderer: "Das war notwendig." Kanzler: "Das will ich meinen. Um sich klar auszudrücken, braucht man aber gar so lange Zeit." Herausforderer: "Sie haben aber noch länger geredet." Kanzler: "Ich sage Ihnen jetzt mal, wie es wirklich ist ..."

Ich halte es für überflüssig, auf sachliche Einzelheiten des "Duells" einzugehen, schon deshalb, weil keiner der beiden Protagonisten weiss, wie die Finanzierungsmöglichkeiten in in der Nachwahlzeit aussehen werden, die alles bestimmen werden. Alle Versprechungen, alle Hinweise auf getanes und geplantes Gutes (für den Wähler) sind heute nichts als warme Luft.

Hinzu kommt, dass beide Kandidaten mit einem Koalitionspartner rechnen müssen, wobei, wie bisher zwischen SPD und Grünen, oft der Schwanz mit dem Hund wedeln wird, mindere Probleme (auch) deshalb eher gelöst werden, als die wirklich wichtigen. So gibt es, z.B. schon die Homo-Ehe und die Oekosteuer, aber noch keine Sicherheit für die Alten, die Kranken und die sozial Schwachen. Auch keine Lösungsansatz, wie die medizinische Versorgung dauerhaft finanziert werden kann, oder die Altersrenten auf einem Niveau gehalten werden können, das ein relativ sorgenloses Leben im Alter ermöglicht. Von den Kosten der europäischen Erweiterung oder denen des weltweiten Einsatzes der Bundeswehr gar nicht zu reden.

Wie haben sie sich nun geschlagen? Es gab keinen Sieger, es konnte keinen geben. Und es wird auch keine Wählerwanderung wegen dieses "Duells" geben, weil beide mit ihrem "Fachwissen" brillierten, schlagfertig reagierten, höchstens kleine Kratzwunden schlugen - Politprofis eben, man weiss ja nie, was noch kommen kann.

Beide waren nervös, was an Aussagen wie dieser des Kanzlers zu erkennen war: "Wer möchte, dass ich weiterhin Kanzler bleibe - es gibt ja eine durchaus beachtliche Zahl von Menschen in Deutschland, was mich freut-, der wird im Ergebnis SPD wählen müssen." Wohl wahr. Dass der Kanzler seinen Amtsbonus zu nutzen suchte, ist ersichtlich. Er trägt bedeutende Gedanken (zum Euro, zu Europa etc) sehr staatsmännisch vor. Und er kennt ja - ist gar mit etlichen per DU!- die übrigen wichtigen Staatenlenker viel besser, als der Herausforderer. Was im Übrigen kein Pluspunkt für ihn ist, sondern seine Aufgabe, während der Herausforderer bisher mehr im bayrischen Raum von sich reden machen konnte.

Beide versuchen auch, ihren Humor unter Beweis zu stellen, damit sie "dem Wähler" nicht allzu fern und abgehoben erscheinen mögen. So bescheinigt der Kanzler dem Herausforderer, durch das Duell dazu gelernt zu haben, zumindest was seine Artikulationsfähigkeit angeht. Der Herausforderer hat es schon immer gewusst: "Der Kanzler glaubt, seine schlechten Bilanzen mit Charme übertünchen zu können, was ihm nicht gelingen werde."

Der Kanzler war der geschmeidigere, der gelassenere, der selbstsichere der Beiden. Dagegen wirkt der Herausforderer aufrichtiger, ernsthafter - kein Wunder bei dieser Konstellation. Es ist mir nicht möglich, es erscheint mir vor allem als unnötig zu benoten, wer die besseren Vorschläge hat, weil es ja doch anders kommen wird. Und weil weder die beiden Bewerber, noch sonst jemand heute voraussagen kann, wie Welt und Wirtschaft in den kommenden Jahren aussehen werden. Die unterschiedlichen Wege zur Beglückung der Wähler sind, objektiv gesehen, gering. Und wie gesagt, sowieso nur warme Luft, solange der Koalitionspartner nicht feststeht.

Es ist nicht schade um die Zeit, trotzdem, das Gespräch zu lesen, auch wenn es keine neuen Erkenntnisse über die beiden Kanzleramtsbewerber von den grossen Parteien bringt. Nichts ist verbindlich, wenig ist gescheit, aber das gehört nun mal zum politischen Geschäft. Aber es ist Wahlkampf. Und Bild und BamS waren, wieder einmal, dabei.

Interview-Duell in Berlin: Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Herausforderer Edmund Stoiber beantworteten 90 Minuten lang die Fragen von "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann und "Bild"-Chef Claus Strunz.
 
"Bild": Herr Bundeskanzler, um welche Eigenschaften beneiden Sie Edmund Stoiber?    
  Schröder: Ich beneide ihn um nichts; denn ich bin zum Neid völlig unfähig.  
"Bild": Herr Ministerpräsident, was hat Gerhard Schröder Ihnen voraus?    
    Stoiber: Er ist ein bisschen ein Schauspieler.
  Schröder: Immerhin: Ich bin Kanzler.  
"Bild": Herr Bundeskanzler, warum nennen Sie Ihren Herausforderer einen "Streber"?    
  Schröder: Dessen kann ich mich zwar nicht erinnern, aber gewisse Anzeichen gibt es ja dafür. Es gibt diese schöne Legende vom Einser-Juristen. Da ich das selber mal gemacht habe, weiss ich: Die meisten, die eine Eins bekommen haben, waren schon sehr strebsam. Das muss ich sagen. Es ging bei mir; aber es war gehobener Durchschnitt.  
    Stoiber: "Streber" ist sicherlich keine positive Bezeichnung, "strebsam" dagegen ja. Ein Kanzler sollte schon strebsam sein.
  Schröder: Das sehen Sie an mir, Herr Stoiber.  
    Stoiber: Das weiss ich nicht. Wenn ich mir Sie anschaue, glaube ich, müssen Sie nachsitzen.
"Bild": Sie, Herr Ministerpräsident, sprechen gern von einem "Dampfplauderer", wenn es um Herrn Schröder geht.    
    Stoiber: Das tue ich nicht regelmässig. Aber ich kritisiere natürlich an Herrn Schröder, dass er sehr viel verspricht und dann vieles nicht hält. Dazu kommt, dass er sehr populistische Aussagen wie zum Beispiel "Kriminelle Ausländer müssen raus, aber schnell" und "Wir werden das gesetzlich regeln" macht. Diese jedoch haben keine gesetzlichen Regelungen nach sich gezogen. So gibt es eine ganze Reihe anderer Aussagen. So zum Beispiel: Die Leute, die sich an kleinen Mädchen oder an Kindern vergehen und sie sexuell missbrauchen, müssen auf Dauer weggesperrt werden, aber schnell. - Auch hier warten wir immer noch auf entsprechende bundesweite Regelungen.
"Bild": Herr Stoiber, bei den persönlichen Werten kommt der Kanzler in den Umfragen sehr gut weg. Er ist vor allem bei Frauen sehr beliebt. Was hat der Kanzler, was Sie nicht haben?    
    Stoiber: Ich weiss nicht, ob er bei Frauen besser ankommt. Ich glaube, dass Frauen genauso ihre Entscheidungen nach Kompetenz messen. Sie entscheiden danach, wen sie für kompetenter in der Lösung der uns bedrängenden Fragen halten.
"Bild": Sie haben vorhin betont: "Ich bin der Kanzler." Macht Macht sexy?    
  Schröder: Nein, man darf aber keine Angst haben vor Macht, wenn man Spitzenämter in der Politik haben will. Demokratisch legitimierte Macht ist die Voraussetzung dafür, dass man Politik gestalten kann. Also muss man sie auch wollen. Welche Auswirkungen das auf andere hat, kann ich nicht beurteilen. Das ist auch das Urteil, das andere über diejenigen haben, die demokratisch legitimierte Macht ausüben. Das ist ja auf Zeit verliehene Macht. Als solche ist sie Voraussetzung einer Politik, die gestalten und nicht einfach hinnehmen will.  
"Bild": Herr Bundeskanzler, warum können Sie Ihre guten persönlichen Werte in den Umfragen nicht auf die Regierungskoalition übertragen?    
  Schröder: Zunächst geht es nicht darum, sie auf die Koalition zu übertragen, sondern auf die SPD. Das bessert sich zurzeit. Ich hoffe, dass wir zum Ende des Wahlkampfs die guten Werte auf die Partei werden übertragen können. Denn wahr ist: Wer möchte, dass ich weiterhin Kanzler bleibe - es gibt ja eine durchaus beachtliche Zahl von Menschen in Deutschland, was mich freut -, der wird im Ergebnis SPD wählen müssen. Dieses ist ja keine Präsidentschaftswahl französischen oder amerikanischen Musters, sondern eine, die vor allem über die Zweitstimme entschieden wird, die der jeweiligen Partei gegeben werden muss. Also: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Personen und der Partei, was den Wahlerfolg angeht. Dass Personalisierung in der heissen Phase des Wahlkampfes unabhängig vom persönlichen Willen stattfinden wird und immer stattgefunden hat, ist gar keine Frage.  
"Bild": Herr Ministerpräsident, wenn die Deutschen den Kanzler direkt wählen könnten, bliebe Gerhard Schröder mit grossem Abstand Regierungschef. Was macht Sie so sicher, dass Sie es trotzdem schaffen?    
    Stoiber: Es kommt auf die Kompetenz an. Wenn ich mir die Umfragen vor Augen halte, die Sie zitieren, messen mir die Bürgerinnen und Bürger in der Wirtschaftspolitik und in der Arbeitsmarktpolitik die wesentlich höhere Kompetenz zu. Auch messen mir die Leute eine höhere Entschlusskraft und ein höheres Durchsetzungsvermögen zu. Deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass wir mit den Positionen, die ich mit CDU und CSU zusammen vertrete, die Mehrheit bekommen. Sie kennen unser Ziel: Wir wollen 40 Prozent der Stimmen erreichen und mit Abstand stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag werden.
"Bild": Hat der Bundeskanzler in den letzten vier Jahren denn alles falsch gemacht?    
    Stoiber: Ich messe nur die Bilanz, und ich stelle einfach fest, dass der Bundeskanzler sein zentrales und grosses Versprechen, die Arbeitslosigkeit im Jahresschnitt auf unter 3,5 Millionen zu drücken, nicht eingehalten hat. Er hat das mehrfach versprochen. Er hat auch deutlich gemacht, dass er sich an diesem Versprechen messen lassen will; wenn er das nicht erreiche, habe er es nicht verdient, wieder gewählt zu werden. Beim Abbau der Arbeitslosigkeit sind wir international in Europa Schlusslicht. Wir sind beim wirtschaftlichen Wachstum mit Abstand Letzter. Deswegen haben wir solche Schwierigkeiten, unsere inneren Probleme lösen zu können.
  Schröder: Ich muss eines richtig stellen: Die Arbeitslosigkeit in Spanien ist deutlich höher als in Deutschland. Das Gleiche trifft für Frankreich zu. Also: Bei den grossen europäischen Ländern, die mit uns konkurrieren, haben Sie die Zahlen nicht richtig im Kopf, Herr Stoiber.  
    Stoiber: Doch! Ich habe ja nicht von den Zahlen, sondern vom Abbau der Arbeitslosigkeit gesprochen.
  Schröder: Darf ich ausreden? - Es kann ja nachgeprüft werden. Die Arbeitslosigkeit in Spanien liegt zwischen elf und zwölf Prozent, und auch in Frankreich ist sie ein Prozent höher als in Deutschland. Insofern stimmt Ihre Aussage schlicht nicht. Nach allen Prognosen, die wir im Jahre 2000 nach den wichtigen Reformen, die wir durchgeführt haben, hatten, wäre es möglich gewesen, ohne Einbrüche in der Weltwirtschaft die Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen zu erreichen. Das war unser Ziel; das bleibt unser Ziel. Aber derjenige, der sich in ökonomischen Fragen für kompetent hält, sollte wissen, dass eine so exportabhängige Wirtschaft wie die deutsche natürlich von weltwirtschaftlichen Einbrüchen viel, viel stärker als andere Volkswirtschaften betroffen ist. Das war das Problem Deutschlands. Deswegen darf man das Ziel nicht aufgeben. Aber wir brauchen Zeit dafür, um nach Überwindung der weltwirtschaftlichen Krise - und wir sind ja mitten in der Überwindung - das gekennzeichnete Ziel zu erreichen. Das bleibt nach wie vor unser fester Wille.  
    Stoiber: Herr Schröder, Sie müssen mir bitte zuhören! Ich habe nicht von den absoluten Zahlen der Arbeitslosigkeit gesprochen ...
  Schröder: Von welchen denn?  
    Stoiber: ... sondern ich habe davon gesprochen, dass wir beim Abbau der Arbeitslosigkeit nach der Statistik der Europäischen Kommission an letzter Stelle liegen. Die Europäische Kommission gibt ja selber vor, dass im Jahre 2002 und 2003 nach ihren Prognosen in Europa 1,8 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden, dass aber Deutschland leider 180 000 Arbeitsplätze verlieren wird. So weit die Zahlen. Die habe ich Ihnen zu Ihrer Bilanz vorgehalten.
  Schröder: In Deutschland sind in der Zeit, in der wir regieren, 1,2 Millionen neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden. Im letzten Jahr hatten wir die höchste Erwerbstätigenquote, die es in Deutschland je gegeben hat. Wie man angesichts dessen von Rückständen sprechen kann, ist mir schlicht unerfindlich; es sei denn, man will nur Wahlkampf machen. Das hat nichts mit einer seriösen ökonomischen Debatte zu tun.  
    Stoiber: Ich will das nicht stehen lassen. Sie hatten einen Zuwachs an Arbeitsplätzen nur dadurch, dass Sie das 630-Mark-Gesetz geändert hatten. Arbeitsplätze, die es schon gegeben hat, sind jetzt sozialversicherungspflichtig geworden. Ich sage, dass das keine neuen Arbeitsplätze sind. Das sind Arbeitsplätze, die es bisher gegeben hat. Für diese Arbeitsplätze sind bisher Steuern gezahlt worden. Sie sind nicht registriert worden. Wenn Sie allein mit statistischen Tricks zufrieden sind, die Arbeitsplätze nach oben zu rechnen, dann ist das allein Ihr Problem.
"Bild": Herr Stoiber, was würde denn aus Deutschland werden, wenn Gerhard Schröder weitere vier Jahre Kanzler bleibt?    
    Stoiber: Die hohe Arbeitslosigkeit ist unser grösstes Problem; keine Bewegung. Wir bekommen in diesem Jahr jeden Monat attestiert, dass die Arbeitslosigkeit wächst. Wir werden feststellen - Sie haben diese Prognose schon heute im Blatt -, dass die Juni-Zahlen des Jahrs 2002 etwa 200 000 Arbeitslose mehr als im Jahre 2001 zeigen. Das ist ein unerträglicher Zustand. Ich stelle fest, dass vor allen Dingen in den neuen Ländern - Sie haben ja Herrn Kohl massiv angegriffen und gesagt, dass Sie es besser machen, und es zur Chefsache Ost gemacht - die Arbeitslosigkeit in Ihrer Zeit zugenommen hat. Deswegen habe ich vorgeschlagen, dass der Mann, der wahrscheinlich am meisten von Politik und Wirtschaft versteht, Lothar Späth, sich in besonderem Masse um den Osten kümmern soll.
"Bild": Herr Bundeskanzler, sehen Sie schwarz für Deutschlands Zukunft, wenn Edmund Stoiber Kanzler werden sollte?    
  Schröder: Nein, das tue ich nicht. Ich bin dagegen, dass er das wird. Ich halte es auch für falsch für die ökonomische, für die politische, für die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland. Aber Katastrophengemälde zu malen ist meine Sache überhaupt nicht. Die deutsche Zivilgesellschaft ist stabil genug, sich gegen eine Politik, die ich nicht richtig finde, auch zur Not zur Wehr zu setzen: gegen den Abbau von Arbeitnehmerrechten, gegen Veränderungen beim Betriebsverfassungsgesetz, also all das, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer interessiert. Die deutsche Wirtschaft ist auch auf den Märkten der Welt stabil genug, um auch Herrn Stoiber zu überstehen.  
"Bild": Herr Stoiber, gibt es denn einen Fehler, den Sie dem Bundeskanzler ganz besonders ankreiden?    
    Stoiber: Ich kreide ihm an, dass er als Ministerpräsident eine Steuerreform 1996/97/98 verhindert hat und dann eine Steuerreform durchgeführt hat, die uns und den Mittelstand ganz gewaltig zurückgeworfen hat. Das werfe ich ihm vor, weil ich der festen Überzeugung bin, dass darin auch eine der Ursachen unserer Arbeitsmarktsituation liegt. Sie ist nicht international, sondern im Wesentlichen national begründet. Ihr Vorvorgänger Helmut Schmidt hat Ihnen das ja vor ein paar Tagen vorgeworfen. Er hat gesagt: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nicht von der Globalisierung und den internationalen Entwicklungen abhängig, sondern hausgemacht. Darin hat er Recht, weil die Rahmenbedingungen für den Mittelstand sich erheblich verschlechtert haben. Das ist für mich einer der schweren Fehler.
  Schröder: Der Vorwurf würde Sinn machen, wenn er sachlich begründet wäre. Das ist er aber nicht. Wir sind es gewesen, die zum Beispiel die Gewerbeertragsteuer voll auf die zu zahlende Einkommensteuer beim Mittelstand, der meistens aus Personengesellschaften besteht, angerechnet haben. Die Verhinderung der Steuerreform, die Sie auf der Basis Ihrer Petersberger Beschlüsse haben machen wollen, war notwendig, weil zur Finanzierung der Senkung des Spitzensteuersatzes Sie schlicht streichen wollten, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Schicht- und Nachtarbeitszuschlägen erhalten. Das ist kein geeignetes Instrument, eine Steuerreform in diesem Bereich zu finanzieren, wenn man bei den Kleinen abkassiert.  
    Stoiber: Das ist nicht richtig.
  Schröder: Das steht in Ihren Petersberger Beschlüssen.  
    Stoiber: Nein. So können wir nicht miteinander umgehen. Das wissen Sie ganz genau.
  Schröder: Ich kann doch nur lesen, was Sie geschrieben haben, und muss das danach bewerten.  
    Stoiber: Diese Steuerreform war das Angebot der damaligen Regierung, mit Ihnen über alles zu reden. Sie haben dieses Angebot überhaupt nicht angenommen, weil Sie im Prinzip diese Steuerreform generell nicht wollten. Das hat uns insgesamt zurückgeworfen.
"Bild": Herr Stoiber, welche Aufgaben hat denn Gerhard Schröder in seiner Amtszeit so gut gelöst, dass Sie es selber nicht besser hinbekommen hätten?    
    Stoiber: Gut ist, dass wir entgegen seinen früheren Auffassungen in der Aussenpolitik heute keine fundamentalen Gegensätze mehr haben. Die damalige Opposition hat bei den Einsätzen der Bundeswehr ausserhalb des NATO-Gebietes nein gesagt. Heute gibt es darüber keine Diskussionen mehr, und zum Teil hat die Opposition fehlende Stimmen der Regierungsfraktion ersetzt. Insoweit will ich das durchaus positiv bewerten.
"Bild": Herr Bundeskanzler, gibt es denn Dinge, von denen Sie sagen: Da führt der Edmund Stoiber die Wähler schon heute aufs Glatteis?    
  Schröder: Sicher gibt es die, zum Beispiel bei der Entwicklung des Staatshaushaltes und der Sozialversicherungshaushalte. Es ist die Rede von dem, was Sie grossspurig drei Mal unter 40 nennen. Wenn man das finanzieren wollte, würde das bedeuten, dass Bund, Ländern und Gemeinden zusammen 170 Milliarden Euro fehlten. Die kann man gar nicht aufbringen. Die kann man weder durch Kürzungen bei Sozialleistungen noch durch Verschuldung aufbringen. Insofern sind das Luftblasen, die von Seiten der CDU/CSU angekündigt werden. Ihnen fehlt jegliche seriöse Finanzierung. Das wird umso schlimmer, wenn man bedenkt, dass auf der anderen Seite Ausgaben in einer Grössenordnung von 70 Milliarden Euro angekündigt werden. Hier zeigt sich, dass weder von ökonomischer noch von finanzpolitischer Kompetenz die Rede sein kann.  
    Stoiber: Nein! Wenn wir schon eine Diskussion führen, müssen Sie jedem die Möglichkeit geben, darauf zu antworten. Der Bundeskanzler hat ein wesentliches Merkmal unseres Regierungsprogramms, das wir umsetzen wollen, angesprochen: drei Mal 40. Ich muss ihn berichtigen. Wir wollen zum einen Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent. Sie liegen gegenwärtig bei 41,67. Gerhard Schröder hat auch schon einmal gefordert, dass sie unter 40 beziehungsweise auf 40 reduziert werden. Das ist richtig, auch wenn er es selber aufgegeben hat. Zweitens wollen wir den Spitzensteuersatz auf unter 40 Prozent senken. Das sind mittelfristig zu vollziehende Massnahmen. Der dritte Punkt ärgert mich, ehrlich gesagt, am meisten, weil ich Ihnen damit ein Stück Unredlichkeit vorwerfe. 40 Prozent Staatsquote bedeutet gegenwärtig: Jede zweite Mark, die wir alle hier verdienen, wird durch öffentliche Kassen umverteilt. Dies ist ein unerträglicher Zustand. Jetzt polemisieren Sie gegen die Veränderung der Staatsquote, die notwendig ist. Sie haben selbst, Herr Bundeskanzler, vor drei Jahren diese Staatsquote ebenfalls auf 40 Prozent senken wollen. Genau das werfe ich Ihnen vor! All das, was Sie gestern oder vorgestern als richtig vertreten haben, haben Sie über Bord geschmissen. Sie können so nicht mit den Dingen umgehen. Wir brauchen eine Senkung der Staatsquote. Jetzt den Menschen Angst zu machen, indem Sie sagen, es würden ihnen 170 Milliarden Euro weggenommen, ist auf sehr niedrigem Niveau. Wir wollen, dass die Menschen von dem, was sie verdienen, ein Stück mehr in der Tasche behalten.
  Schröder: Aber das ist doch gar kein Streitgegenstand zwischen uns. Nur ist es schlicht so: Wenn Sie Ihre Forderungen in den drei Punkten realisieren, hat das genau die Folgen, die ich gekennzeichnet habe. Das hat negative Folgen für die Entwicklung der Infrastruktur, negative Folgen für den Solidarpakt II im Osten; das hat ebenso negative Folgen für die Investitionen in die innere Sicherheit und in die Bildung. Es hat doch gar keinen Sinn, den Menschen vormachen zu wollen, auf der einen Seite Leistungen zu empfangen und auf der anderen Seite eine Steuer- und Sozialquote zu haben, mit der diese Leistungen in keiner Weise finanzierbar sind. Exakt das machen Sie. Das geht nicht! Also müssen Sie den Menschen sagen: Wenn ihr vernünftig leben wollt, wenn ihr Investitionen in den genannten Bereichen haben wollt, muss das fair aufgebracht werden. Das tun wir. Das steht schon heute im Gesetzblatt und wird bis 2005 umgesetzt. Und was Sie ankündigen, ist schlicht Illusion.  
    Stoiber: Das ist keine moderne Politik, bei dem Standard zu bleiben, eine Staatsquote von 49 Komma X als richtig anzuerkennen. Wir wollen davon herunter, und wir haben das schon einmal gemacht.
  Schröder: Das sagt ja auch keiner.  
    Stoiber: Als wir 1982 auch solch eine hohe Staatsquote hatten, sind damals die Steuern gesenkt worden, ist die Staatsquote langfristig heruntergefahren worden. Aber am Ende haben die öffentlichen Kassen mehr gehabt, und die Menschen haben auch mehr in der Tasche gehabt. Sie wissen das ganz genau. Die Diskussion, die Sie hier führen, ist unredlich; denn das Ziel, die Staatsquote auf unter 40 Prozent zu senken, ist natürlich ein langfristiges Ziel.
  Schröder: Wie langfristig?  
    Stoiber: Das geht mit Sicherheit über eine Legislaturperiode hinaus. Das ist vielleicht auch eine Zeitphase von zwei Legislaturperioden, weil ein Prozent Reduzierung etwa 20 Milliarden Euro sind. Das ist gar nicht die Frage. Wir wollen, dass der Staat und die öffentlichen Kassen langfristig nicht jede zweite Mark, die der Bürger verdient, mehr oder weniger umverteilen.
  Schröder: Aber dann dürfen Sie nicht gleichzeitig mehr fordern für die Bundeswehr, für die innere Sicherheit, für Bildungsinvestitionen, für Hochschulen und für den Solidarpakt II. Das passt nicht zusammen.  
    Stoiber: Bei Ihrem wirtschaftlichen Wachstum mit 0,8 Prozent kann man das zweifelsohne nicht machen.
  Schröder: Bei welchem Wachstum passt es denn?  
"Bild": Herr Bundeskanzler, Sie hatten vier Jahre Zeit. Jetzt fragen viele Leute: Warum kommt denn die Regierung mit ihrem entscheidenden Reformvorschlag auf dem Arbeitsmarkt erst so spät?    
  Schröder: Es gibt nicht einen entscheidenden Reformvorschlag. Wir haben zum Beispiel nach 16 Jahren Stillstand unter Herrn Kohl - Herr Stoiber hat ja das gleiche Personal rekrutiert - eine Steuerreform durchgeführt, die Deutschland im europäischen und im weltweiten Kontext wettbewerbsfähiger gemacht hat, und zwar sowohl auf der Kostenseite der Unternehmen als auch bei der Nachfrageseite, also bei dem, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Brutto netto bekommen. Das hat wirtschaftlich geholfen. Wir haben zweitens, was es vorher nie gegeben hat, eine zweite Säule unter das Dach der Rentenversicherung gestellt. Wir haben die umlagefinanzierte Rente durch eine kapitalgedeckte Rente ergänzt. Sie funktioniert sowohl auf der betrieblichen als auch auf der privaten Seite. Wir haben ein Zuwanderungsrecht geschaffen, das modern ist, das Begrenzung und Integration erlaubt, aber auch unsere humanitären Verpflichtungen erfüllt. Und wir haben im Gesundheitssystem wichtige Veränderungen auf den Weg gebracht, zum Beispiel einen Ausgleich zwischen Ost und West. Der Reformstau ist aufgelöst worden. Wir gehen jetzt daran, die Arbeitsmarktreform voranzubringen, weil Fehlentwicklungen in der Bundesanstalt für Arbeit deutlich geworden sind. Im Übrigen ist es nicht die erste Massnahme, die wir ergreifen. Das JobAqtiv-Gesetz, das wir gemacht haben, in dessen Mittelpunkt bessere Vermittlung in die offenen Stellen steht, ist die Basis für all das, was Herr Hartz jetzt vorschlägt.  
"Bild": Jetzt sagt die Hartz-Kommission, die Zahl der Arbeitslosen lasse sich bis 2005 halbieren. Geben Sie uns dieses neue Versprechen?    
  Schröder: Ich bin vorsichtig - auch angesichts weltwirtschaftlicher Entwicklungen, die nicht kontrollierbar und nicht voraussehbar sind -, mich auf Zahlen festzulegen. Zu dem, was von der Arbeit von Herrn Hartz bisher bekannt geworden ist: Das sind Teilelemente; das ist noch kein endgültiges Konzept. Mir liegt daran, dass ich das endgültige Konzept, das Mitte August vorliegen wird, bekomme und es bewerten kann. Eines kann ich jetzt schon sagen: Das ist eine ungemein wichtige Arbeit, die eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schaffen wird und die Deutschland entscheidend voranbringen wird. Hartz hat in jedem Punkt meine Unterstützung. Wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, wird es an die Bewertung und vor allen Dingen an die Umsetzung gehen.  
"Bild": Herr Ministerpräsident, Sie haben die Reformvorschläge der so genannten Hartz-Kommission, die Radikalkur gegen die Arbeitslosigkeit, als "grossen Bluff" bezeichnet. Sind die Vorschläge nur deshalb schlecht, weil sie der Kanzler in Auftrag gegeben hat?    
    Stoiber: Nein. Ein Teil sind ja Vorschläge, die wir seit langer Zeit gemacht haben und die immer an der SPD gescheitert sind, zum Beispiel die Regelungen der Zumutbarkeit bei der Arbeitslosigkeit zu verschärfen, die Beweislast umzukehren, das Scheinselbstständigkeitsgesetz abzuschaffen, um mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen. Wir wollen, dass derjenige, der Arbeitslosengeld bekommt und jetzt eine Arbeit annimmt, die unterhalb des Arbeitslosengeldes bezahlt wird, am Ende mehr als das Arbeitslosengeld hat. Wir wollen also einen Aufschlag zum Arbeitslosengeld, wenn er einen geringeren Lohn annimmt. Wenn jetzt die Regierung diese Vorschläge einer Kommission übernimmt, werden wir diese Vorschläge natürlich unterstützen und nach der Wahl selbst durchsetzen. Wenn man die über 55-Jährigen praktisch nicht mehr als vermittlungsfähig ansieht und sie aus der Arbeitslosenstatistik herausnehmen möchte, dann ist das genau das, was die Regierung schon einmal versucht hat: mit Statistik-Tricks die Arbeitslosenzahl nach unten zu drücken. Ich halte es für völlig falsch, jetzt zu sagen, man würde jetzt allein mit der Verteilung von Arbeit und mit der Vermittlung von Arbeit die Arbeitslosigkeit auf zwei Millionen reduzieren können. Das können wir nur mit Wachstumsimpulsen schaffen, wenn wir mehr wirtschaftliches Wachstum bekommen, mit Investitionen, die in Deutschland gemacht werden, mit mehr Kaufbereitschaft in der Bevölkerung, mit mehr Optimismus. Ich werfe der Bundesregierung auch vor, dass es noch keine Regierung gegeben hat, die so viele Gutachten für die Arbeitsmarktpolitik in Auftrag gegeben hat. Das war jetzt das 52. Gutachten. Ich finde es schon toll, dass man ein Gutachten vom Bündnis für Arbeit bekommen hat, das man mit spitzen Fingern angefasst und abgelegt hat. Man hätte es damals umsetzen und nicht unsere Vorschläge diffamieren sollen.
"Bild": Wie viele Arbeitslose weniger versprechen Sie uns denn?    
    Stoiber: Ich verspreche mit Sicherheit keine Zahl; denn dies hängt nicht allein von der Politik, sondern von den Rahmenbedingungen ab und davon, wie diese Rahmenbedingungen von der Wirtschaft ausgefüllt werden.
"Bild": Schafft die Politik nicht diese Rahmenbedingungen?    
    Stoiber: Natürlich. Deswegen sage ich ja: Mit den drei Mal 40 schaffen wir die Rahmenbedingungen. In erster Linie brauchen wir eine Entlastung des Mittelstandes. Ich halte es, Herr Bundeskanzler, wirklich für einen schweren Fehler, dass Sie, was die Körperschaftsteuer anbelangt, eine Reform der Kapitalgesellschaften durchgeführt haben, die jetzt dazu führt, dass die Länder und der Bund im letzten und auch in diesem Jahr kein Geld mehr von den grossen Unternehmen einnehmen. Wir hatten im Jahre 2000 noch 23 Milliarden Euro an Körperschaftsteuer eingenommen. Wir haben im letzten Jahr zurückgezahlt. Wir zahlen in diesem Jahr wieder zurück. Das ist für mich ein wirklich unerträglicher Vorgang, dass grosse Kapitalgesellschaften früher gezahlte Körperschaftsteuer vom Finanzamt zurückbekommen, während beim Mittelstand so etwas nicht stattfindet. Das ist die Ungerechtigkeit, die die Leute im mittelständischen Bereich nicht akzeptieren.
"Bild": Herr Bundeskanzler, Ihr Mienenspiel sieht so aus, als wollten Sie zur Körperschaftsteuer unbedingt antworten.    
  Schröder: Es wird von Ihnen kritisiert, dass wir die Erlöse aus Veräusserungen von Beteiligungen bei Kapitalgesellschaften steuerfrei gestellt haben. Dazu will ich Folgendes sagen. Das ist keine Freistellung von Steuern, sondern in der Praxis eine Stundung von Steuern. Denn wenn diese Gewinne ausgeschüttet und nicht wieder in Deutschland investiert werden, müssen sie selbstverständlich versteuert werden. Wenn sie aber in Deutschland in eine neue wirtschaftliche Dynamik investiert werden, haben wir ein Interesse daran, weil das Arbeitsplätze schafft. Deswegen zeugt es nicht von ökonomischer Kompetenz, wenn man aus fadenscheinigen Gründen diese Massnahme kritisiert. Sie hat etwas mit der Erneuerung der alten Deutschland AG zu tun. Sie hat im Übrigen bereits jetzt Erfolge gebracht. Das Zweite, was Sie sagen, dass der Mittelstand benachteiligt worden wäre, stimmt einfach nicht. Die Kapitalgesellschaften zahlen 38 Prozent an Steuern, und der Mittelstand zahlt einen Spitzensteuersatz von 48 1/2 Prozent, später 42 Prozent, aber unter voller Anrechnung von rund 13 Prozent durchschnittlicher Gewerbeertragsteuer. Also liegt er im Ergebnis besser als die Kapitalgesellschaften. Im Übrigen macht es keinen Sinn, Grosse und Kleine gegeneinander auszuspielen; denn es ist so, dass grosse Unternehmen und viele Handwerksmeister und Zulieferer eng zusammenarbeiten und voneinander profitieren.  
    Stoiber: Dort haben wir eine Ungleichbehandlung. Es geht mir um die Ungleichbehandlung. Sie müssen wissen, dass gerade im mittelständischen Bereich, der 75 Prozent der Arbeitsplätze vorhält, darüber grosse Enttäuschung und grosser Unmut besteht. Wir werden auf jeden Fall die Gleichstellung herstellen. Ich möchte Sie doch bitten, dass Sie dies auseinander halten. Ich hatte zunächst angesprochen, dass die Grossen, die Aktiengesellschaften und die GmbH, gegenwärtig keine Einkommensteuer bezahlen.
  Schröder: Das stimmt nicht, weil sich die Situation längst geändert hat. Was Sie skizzieren, hatte mit der Umstellung des Steuerrechts zu tun, die hochkompliziert ist. Deswegen will ich sie Ihnen hier auch nicht erläutern. Wir haben inzwischen wieder eine andere Einnahmensituation, die Steuern werden wieder gezahlt. Das ist auch richtig so, und das werden Sie auch im Landeshaushalt merken.  
    Stoiber: Nein, Herr Schröder, das stimmt leider nicht! Im ersten Vierteljahr dieses Jahres haben Bund und Länder, was die Körperschaftsteuer anbelangt, nur noch zehn Prozent des Aufkommens von vor zwei Jahren - nicht voriges Jahr. Und etwa acht bis neun Länder haben jetzt riesige Probleme. Allein mein Land - Bayern - zahlt von Januar bis Mai 340 Millionen Euro Körperschaftsteuer zurück. Das heisst, das Finanzamt ist eine Auszahlungsstelle geworden. Der Finanzminister möchte jetzt eine Haushaltssperre zulasten vieler sozialer Einrichtungen verhängen. Das ist Ihre Politik. Die werde ich mit Sicherheit so nicht fortführen.
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