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www.rhetorik.ch aktuell: (08. Nov, 2010)

Schaeubles Spott-Auftritt

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:


Wolfgang Schäubles Pressekonferenz zur Steuerschätzung in der "Steinhalle" des Ministeriums fand vor 50 Journalisten statt. Michael Offer, der Sprecher von Bundesfinanzministers eröffnet die Pressekonferenz und sagt, die Unterlagung zur Steuerschätzung seien verteilt. Als dies die Journalisten verneinen legt Schäuble los und weist seinen Mitarbeiter vor laufender Kamera zurecht. Beim Versuch einer Erklärung unterbricht der Bundesminister seinen Sprecher mit den Worten: "Herr Offer, reden Sie nicht, sorgen Sie dafür, dass die Zahlen jetzt verteilt werden."


Heise:
Allein auf dem Videoportal Youtube wurde der Auftritt bis Sonntagmittag über 170'000 Mal abgerufen. Auch im politischen Berlin ist er ein Thema. Kein Wunder, hatte Schäuble seinen engen Mitarbeiter doch vor laufenden Kameras derart rüde zurechtgewiesen, dass dies nicht nur dem Koalitionspartner FDP zu viel war. Selbst die SPD ist empört und stellt sich vor Offer. (... ) Es war aber nicht der erste Fall, in dem Schäuble Mitarbeiter öffentlich zusammenstauchte. Der 68-jährige CDU-Politiker, der nach einem Attentat seit 20 Jahren im Rollstuhl sitzt, ist hart gegen sich selbst und auch hart im Umgang mit anderen. Im Ministerium soll ein Klima der Angst herrschen. Die Stimmungen Schäubles sollen schwanken, was auch Folge starker und vieler Medikamente sein dürfte.
Nachtrag vom 9. November, 2010: Der Sprecher von Schäuble ist zurückgetreten. Aus dem Spiegel:.
Wolfgang Schäuble erledigt die Angelegenheit mit drei Sätzen: "Mein Sprecher Dr. Michael Offer hat mich gebeten, ihn von seiner Funktion als Sprecher des Ministers zu entbinden. Diesem Wunsch habe ich heute entsprochen. Ich danke Herrn Dr. Michael Offer für seinen unermüdlichen Einsatz und seine Loyalität." Schäubles Sprecher hat also hingeworfen, ganz konsequent - und dem Bundesfinanzminister ist das ein paar dürre Zeilen wert. Kein Wort des Bedauerns, kein Lob für die fachlichen Qualitäten seines Mitarbeiters, der eigentlich einer seiner wichtigsten sein sollte. Die Art der Mitteilung sagt viel darüber aus, wie Schäuble über die Sache denkt: Soll er doch gehen, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Dumm nur, dass Schäuble mit dieser Meinung ziemlich allein dasteht. Und dass ihm seine Haltung noch ziemlich schaden könnte.

(...) Eine Entschuldigung Schäubles hätte womöglich noch Einiges retten können. Vielleicht hätte sie Offer vom Rücktritt abgehalten. Aber der Minister rang sich am Wochenende gerade mal das halbherzige Eingeständnis ab, er habe "vielleicht überreagiert" - die Verärgerung über die fehlenden Zahlen jedoch, die sei natürlich berechtigt. Das wollte und konnte Offer nicht auf sich sitzen lassen - zumal es, wie die "Berliner Zeitung" schreibt, Schäuble selbst gewesen sein soll, der noch kurzfristige Änderungen am Material für die Pressekonferenz gefordert hatte. Am Dienstagmorgen teilte Offer seinem Chef mit, ihm sei nach einem "offenen Gespräch" am Tag zuvor klar geworden, "dass ich leider nicht Ihr volles Vertrauen bei der Ausübung meiner Funktion als Ihr Pressesprecher habe". Schäubles Antwort, die Annahme des Rücktrittsgesuchs, liest sich da wie eine Bestätigung dieser Einschätzung. Die Gründe für dieses fehlende Vertrauen sind wohl nicht beim Sprecher zu suchen. An Offers fachlichen Qualitäten besteht kein Zweifel. Bevor er zu Schäuble wechselte, war der 51-Jährige Büroleiter des Haushaltsexperten der Unionsfraktion, Steffen Kampeter, heute parlamentarischer Staatssekretär im Finanzministerium. Geduldig und stets freundlich verteidigte Offer den auch in der Koalition nicht immer unumstrittenen Sparkurs Schäubles. Wenn der Minister, was nicht nur einmal der Fall war, wegen der schlecht verheilenden Operationswunde in die Klinik musste, versuchte sein Sprecher alles, um dem Eindruck zu widersprechen, der Minister sei geschwächt. Nur einmal geriet Offer dabei ins Schwimmen: Als der "Stern" über ein angebliches Rücktrittsangebot Schäubles vor dessen jüngstem Krankenhausaufenthalt berichtete, sprach Offer zunächst von "Spekulationen" - bis ihn Schäuble vom Krankenbett aus per SMS in die laufende Regierungspressekonferenz anwies, ein knallhartes Dementi abzugeben. Schon da war klar, dass Schäuble und Offer nicht wirklich zueinander gefunden hatten.
Nachtrag vom 10. November, 2010: Aus dem "Bild"
"Inakzeptabel", "Das tut man nicht" - Schäubles Auftritt war schon in den vergangenen Tagen aus Opposition und Regierungslager scharf kritisiert worden. Kanzlerin Angela Merkel sah sich genötigt, ihren Minister öffentlich zu verteidigen. An Schäubles fachlicher Eignung zweifelt niemand - aber hinter den Regierungskulissen werden erneut Fragen laut, ob der Minister wegen seiner angeschlagenen Gesundheit das Amt noch lange führen kann. Die Nachrichtenagentur dpa schrieb: "...und einmal mehr keimt die Debatte auf, wie lange Schäuble im Amt bleibt." "Niemand weiss, wie es in ihm aussieht. Er lässt so gut wie niemanden an sich heran", sagt ein CDU-Spitzenmann. Als er im September zum fünften Mal ins Krankenhaus musste, informierte Schäuble selbst engste Vertraute erst unmittelbar vorher. Hat die äusserst langwierige Heilung seiner Operationswunde den Minister verändert? Schäubles Bruder Thomas sagte jüngst dem "Stern": "Das über halbjährige Wundsein hat ihn zermürbt." Der Finanzminister gilt zwar als kantiger, mitunter ungeduldiger Chef, der mit Lob und Vertrauensbeweisen geizt. Aber auch enge Parteifreunde Schäubles rätseln, warum der öffentlich sonst so überaus disziplinierte Schäuble vor zahlreichen Journalisten minutenlang auf seinem Sprecher herumhackte. O-Ton: "Herr Offer, reden Sie nicht, sorgen Sie dafür, dass die Zahlen jetzt verteilt werden." Fakt ist: Schäuble war schwer verärgert. Er hatte vorausgesehen, dass bestimmte Zahlen zur Steuerschätzung nicht rechtzeitig an die wartenden Journalisten verteilt würden. Und er hatte recht behalten. Für die Panne übernahm Offer die Verantwortung und behob sie. Doch Schäuble ätzte in seiner Abwesenheit weiter. O-Ton: "Wir warten noch, bis der Offer da ist, er soll den Scherbenhaufen schon selber geniessen." Das Video der Szene wurde u. a. auf Youtube schon Hunderttausende Mal angesehen. Hinterher war Schäuble dem Vernehmen nach erstaunt, dass sein Auftritt als Demütigung Offers verstanden wurde. Am Wochenende schob der Minister eine ziemlich halbherzige "Entschuldigung" nach, sagte der BamS: "Bei aller berechtigten Verärgerung habe ich vielleicht überreagiert." Am Montag hatten Schäuble und Offer mehrere Gespräche, Dienstag früh legte der Sprecher sein Amt nieder. Den politischen Schaden hat Wolfgang Schäuble.
Der verbale Ausrutscher lässt sich begründen (Krankheit, Medikamente usw.) Doch vertrete ich die Meinung, dass ein Vorgesetzter gelernt haben müsste, dass Mitarbeiter nicht vor anderen blossgestellt oder kritisiert werden dürfen. Erst rechnt nicht wenn Mikrofon und Kameras eingeschaltet sind und Multiplikatoren (Journalisten) anwesend sind. Obschon Schäuble eingesteht, er habe VIELLEICHT überreagiert, so genügt dies nicht. Grösse wäre gewesen eindeutig (ohne "vielleicht") einzugestehen: "Tut mir leid, ich habe überreagiert, weil....". Meine Prognose: Der Druck auf Schäuble ist nicht weg.
Nachtrag vom 11. November, 2010: Aus dem Spiegel:
Fakt ist: Wolfgang Schäuble hat ein schwieriges Jahr hinter sich. Politisch, weil er hart um seinen Sparkurs ringen musste mit den vereinigten Steuersenkern von FDP und CSU. Persönlich, weil er wegen einer nicht verheilenden Operationswunde wochenlang im Krankenhaus weilte, an wichtigen Gipfeltreffen nicht teilnehmen konnte. Und zuletzt die Sache mit der Demütigung seines Sprechers Michael Offer. Schäuble sagt dazu nur: "Auch ein Bundesfinanzminister hat Nerven und ist manchmal sehr belastet." (...)

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