Wolfgang Schäubles Pressekonferenz zur Steuerschätzung
in der "Steinhalle" des Ministeriums fand vor 50 Journalisten statt.
Michael Offer, der Sprecher von Bundesfinanzministers
eröffnet die Pressekonferenz und sagt, die Unterlagung zur Steuerschätzung
seien verteilt. Als dies die Journalisten verneinen legt Schäuble los
und weist seinen Mitarbeiter vor laufender Kamera zurecht.
Beim Versuch einer Erklärung unterbricht der Bundesminister
seinen Sprecher mit den Worten: "Herr Offer, reden Sie nicht, sorgen
Sie dafür, dass die Zahlen jetzt verteilt werden."
Allein auf dem Videoportal Youtube
wurde der Auftritt bis Sonntagmittag über 170'000 Mal abgerufen. Auch im
politischen Berlin ist er ein Thema. Kein Wunder, hatte Schäuble
seinen engen Mitarbeiter doch vor laufenden Kameras derart rüde
zurechtgewiesen, dass dies nicht nur dem Koalitionspartner FDP zu viel
war. Selbst die SPD ist empört und stellt sich vor Offer.
(... )
Es war aber nicht der erste Fall, in dem Schäuble Mitarbeiter
öffentlich zusammenstauchte. Der 68-jährige CDU-Politiker, der
nach einem Attentat seit 20 Jahren im Rollstuhl sitzt, ist hart gegen sich
selbst und auch hart im Umgang mit anderen. Im Ministerium soll ein Klima
der Angst herrschen. Die Stimmungen Schäubles sollen schwanken,
was auch Folge starker und vieler Medikamente sein dürfte.
Nachtrag vom 9. November, 2010:
Der Sprecher von Schäuble ist zurückgetreten. Aus dem
Spiegel:.
Wolfgang Schäuble erledigt die Angelegenheit
mit drei Sätzen: "Mein Sprecher Dr. Michael Offer hat mich
gebeten, ihn von seiner Funktion als Sprecher des Ministers zu
entbinden. Diesem Wunsch habe ich heute entsprochen. Ich danke Herrn
Dr. Michael Offer für seinen unermüdlichen Einsatz und seine
Loyalität." Schäubles Sprecher hat also hingeworfen, ganz
konsequent - und dem Bundesfinanzminister ist das ein paar dürre
Zeilen wert.
Kein Wort des Bedauerns, kein Lob für die fachlichen
Qualitäten seines Mitarbeiters, der eigentlich einer seiner
wichtigsten sein sollte. Die Art der Mitteilung sagt viel darüber
aus, wie Schäuble über die Sache denkt: Soll er doch gehen,
ich habe mir nichts vorzuwerfen.
Dumm nur, dass Schäuble mit dieser Meinung ziemlich allein
dasteht. Und dass ihm seine Haltung noch ziemlich schaden könnte.
(...)
Eine Entschuldigung Schäubles hätte womöglich noch Einiges
retten können. Vielleicht hätte sie Offer vom Rücktritt
abgehalten. Aber der Minister rang sich am Wochenende gerade mal das
halbherzige Eingeständnis ab, er habe "vielleicht überreagiert"
- die Verärgerung über die fehlenden Zahlen jedoch, die sei
natürlich berechtigt.
Das wollte und konnte Offer nicht auf sich sitzen lassen - zumal es,
wie die "Berliner Zeitung" schreibt, Schäuble selbst gewesen
sein soll, der noch kurzfristige Änderungen am Material für
die Pressekonferenz gefordert hatte. Am Dienstagmorgen teilte Offer
seinem Chef mit, ihm sei nach einem "offenen Gespräch" am Tag
zuvor klar geworden, "dass ich leider nicht Ihr volles Vertrauen bei der
Ausübung meiner Funktion als Ihr Pressesprecher habe". Schäubles
Antwort, die Annahme des Rücktrittsgesuchs, liest sich da wie eine
Bestätigung dieser Einschätzung.
Die Gründe für dieses fehlende Vertrauen sind wohl nicht
beim Sprecher zu suchen. An Offers fachlichen Qualitäten
besteht kein Zweifel. Bevor er zu Schäuble wechselte, war der
51-Jährige Büroleiter des Haushaltsexperten der Unionsfraktion,
Steffen Kampeter, heute parlamentarischer Staatssekretär im
Finanzministerium.
Geduldig und stets freundlich verteidigte Offer den auch in der Koalition
nicht immer unumstrittenen Sparkurs Schäubles. Wenn der Minister,
was nicht nur einmal der Fall war, wegen der schlecht verheilenden
Operationswunde in die Klinik musste, versuchte sein Sprecher alles,
um dem Eindruck zu widersprechen, der Minister sei geschwächt.
Nur einmal geriet Offer dabei ins Schwimmen: Als der "Stern" über ein
angebliches Rücktrittsangebot Schäubles vor dessen jüngstem
Krankenhausaufenthalt berichtete, sprach Offer zunächst von
"Spekulationen" - bis ihn Schäuble vom Krankenbett aus per SMS in
die laufende Regierungspressekonferenz anwies, ein knallhartes Dementi
abzugeben. Schon da war klar, dass Schäuble und Offer nicht wirklich
zueinander gefunden hatten.
Nachtrag vom 10. November, 2010: Aus dem "Bild"
"Inakzeptabel", "Das tut man nicht" - Schäubles Auftritt war schon
in den vergangenen Tagen aus Opposition und Regierungslager scharf
kritisiert worden. Kanzlerin Angela Merkel sah sich genötigt,
ihren Minister öffentlich zu verteidigen.
An Schäubles fachlicher Eignung zweifelt niemand - aber hinter
den Regierungskulissen werden erneut Fragen laut, ob der Minister wegen
seiner angeschlagenen Gesundheit das Amt noch lange führen kann. Die
Nachrichtenagentur dpa schrieb: "...und einmal mehr keimt die Debatte auf,
wie lange Schäuble im Amt bleibt."
"Niemand weiss, wie es in ihm aussieht. Er lässt so gut wie
niemanden an sich heran", sagt ein CDU-Spitzenmann. Als er im September
zum fünften Mal ins Krankenhaus musste, informierte Schäuble
selbst engste Vertraute erst unmittelbar vorher.
Hat die äusserst langwierige Heilung seiner Operationswunde
den Minister verändert? Schäubles Bruder Thomas sagte
jüngst dem "Stern": "Das über halbjährige Wundsein hat
ihn zermürbt."
Der Finanzminister gilt zwar als kantiger, mitunter ungeduldiger Chef,
der mit Lob und Vertrauensbeweisen geizt. Aber auch enge Parteifreunde
Schäubles rätseln, warum der öffentlich sonst so
überaus disziplinierte Schäuble vor zahlreichen Journalisten
minutenlang auf seinem Sprecher herumhackte. O-Ton: "Herr Offer, reden
Sie nicht, sorgen Sie dafür, dass die Zahlen jetzt verteilt werden."
Fakt ist: Schäuble war schwer verärgert. Er hatte vorausgesehen,
dass bestimmte Zahlen zur Steuerschätzung nicht rechtzeitig an die
wartenden Journalisten verteilt würden. Und er hatte recht behalten.
Für die Panne übernahm Offer die Verantwortung und behob
sie. Doch Schäuble ätzte in seiner Abwesenheit weiter. O-Ton:
"Wir warten noch, bis der Offer da ist, er soll den Scherbenhaufen schon
selber geniessen."
Das Video der Szene wurde u. a. auf Youtube schon Hunderttausende Mal
angesehen.
Hinterher war Schäuble dem Vernehmen nach erstaunt, dass sein
Auftritt als Demütigung Offers verstanden wurde. Am Wochenende
schob der Minister eine ziemlich halbherzige "Entschuldigung" nach,
sagte der BamS: "Bei aller berechtigten Verärgerung habe ich
vielleicht überreagiert."
Am Montag hatten Schäuble und Offer mehrere Gespräche, Dienstag
früh legte der Sprecher sein Amt nieder.
Den politischen Schaden hat Wolfgang Schäuble.
Der verbale Ausrutscher lässt sich begründen (Krankheit,
Medikamente usw.) Doch vertrete ich die Meinung, dass ein Vorgesetzter
gelernt haben müsste, dass Mitarbeiter nicht vor anderen
blossgestellt oder kritisiert werden dürfen. Erst rechnt nicht wenn
Mikrofon und Kameras eingeschaltet sind und Multiplikatoren (Journalisten)
anwesend sind. Obschon Schäuble eingesteht, er habe VIELLEICHT
überreagiert, so genügt dies nicht. Grösse wäre
gewesen eindeutig (ohne "vielleicht") einzugestehen: "Tut mir leid,
ich habe überreagiert, weil....". Meine Prognose: Der Druck auf
Schäuble ist nicht weg.
Fakt ist: Wolfgang Schäuble hat ein schwieriges Jahr hinter sich.
Politisch, weil er hart um seinen Sparkurs ringen musste mit den
vereinigten Steuersenkern von FDP und CSU. Persönlich, weil er wegen
einer nicht verheilenden Operationswunde wochenlang im Krankenhaus weilte,
an wichtigen Gipfeltreffen nicht teilnehmen konnte.
Und zuletzt die Sache mit der Demütigung seines Sprechers Michael
Offer. Schäuble sagt dazu nur: "Auch ein Bundesfinanzminister hat
Nerven und ist manchmal sehr belastet." (...)