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Zapp-Verhalten


von Marcus Knill

Vom Zappen

Zappen Wer kennt es nicht, das Zappen der Fernsehprogramme. Das Wechseln von Kanal zu Kanal, von Sender zu Sender. Kein Verweilen, kein Gedulden. Der Krimi hat schon angefangen, der nächste Sender bringt Werbung, der folgende Kanal eine langweilige Talkrunde, auch die Kochsendung macht nach dem guten Nachtessen keinen Spass. Dafür aber das Zappen.


Zappen Streng genommen heisst "zappen" das Wechseln von Kanälen wärend Reklamen oder Pausen wärend das Kombinieren von verschiedenen Programmelementen "grazing" genannt wird und beim Schnellvorspulen von vorgespeicherten Tapes "zipping" heisst. In der Umgangssprache wird diese Unterscheidung aber kaum beachtet, sodass wir auch hier einfach das Wort "zappen" gebrauchen.


Zappen ist für viele zum normalen Medienkonsumverhalten geworden. Dutzende von Stationen hinauf und hinunterschalten ist für viele bereits ein alltägliches Spiel. Vielleicht gibt es zwischendurch ein kurzes Verweilen.
Hernach geht das Zappspiel munter weiter. Es sei denn, der Zapper oder die Zapperin schläft vor dem Bildschirm ein. In diesem Fall könnte Ruhe einkehren. Aber lediglich bei der Fernbedienung - weil auf dem Bildschirm der Film weiterflimmert. Die Geräuschkulisse sorgt beim dösenden Zapper für ein wenigstens akustisches Wechselspiel - bis zum Sendeschluss. Dann "schneit" es auf der Mattscheibe nur noch - verbunden mit konstantem Rauschen. Diese ungewohnte Lärmkonstanz weckt möglicherweise die Zapp-Person, die auf den ständigen Wechsel konditioniert ist. Vielleicht reicht es nach dem Ausschalten des Gerätes - trotz der dauernden Betriebsamkeit - doch noch zu ein paar Stunden erholsamen Schlafes. Nur keine Lange-Weile! Weil Langeweile für viele etwas vom Schlimmsten ist, gilt es unter keinen Umständen lange zu verweilen.


Auch ausserhalb des Fernsehens

Dass die Aufmerksamsfähigkeit des Publikums kürzer geworden ist, zeigen auch die Kinofilme. Lange Dialoge oder längere gleichbleibende Kameraeinstellungen sind heute fast verschwunden, der Szenenwechsel hat sich der Zappgeneration angepasst. Kinofilme sind "schneller" geworden. Das Publikum, das im Kino keine Fernbedienung hat, bleibt bei langatmigen Filmen einfach weg.
Das Internet selbst kommt der schnellen Informationssuche noch mehr entgegen. Das Zappen wird dort Klicken auf Hyperlinks noch verschnellert. Die fixierte Anzahl von Kanälen wird durch einen Linkbaum ersetzt.
Die ersten Fernbedienungen für das Fernsehen kamen schon 1956 auf. Die technische Entwicklung ging aber weiter. Selbst die starre Verlinkung der Programme mit der Zeit kann heute durchbrochen werden. Maschinen wie der "Tivo" lassen das programmierte Speichern von mehreren Programmen auf Festplatte zu. Beim Abspielen können Werbeblocks übersprungen ("gezippt") werden, Sendungen sind zu beliebiger Zeit abrufbar.


Auswirkungen auf die Ausbildung

Lehrern wird bereits in der Ausbildung beigebracht, dass Unterricht unterhaltsam sein muss und Spass machen soll. Abwechslung und bewusster Wechsel ist angesagt. Es gilt, Methoden und Medien ständig zu variieren. Es wäre ein Todsünde, eine lange Weile bei einer Tätigkeit zu verbleiben, mehrere Stunden lang zu lesen oder eine Stunde "etwas anhören müssen". Jugendliche mehrere Stunden schreiben lassen? Oder noch schlimmer: Ein lange Weile einem Gedanken nachhängen lassen? Nein, Kinder lieben angeblich den Wechsel, vor allem den raschen Wechsel.


Hyperaktivität

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass die Anzahl Kinder mit HyperaktivitätsStörungen (ADHS) zuzunehmen scheint. In den USA werden schon viele Kinder im Unterstufenklassen mit dem Stimulanzmittel Ritalin behandelt. Die Konzentrationsprobleme und motorische Unruhe würde sonst den Schulunterricht zusehr stören. 3-5 Prozent von US Kindern werden mit Ritalin behandelt, 6 Millionen Verschreibungen werden jährlich ausgestellt ( Quelle).


Zappen als erstrebenswerte Grundhaltung?

Jugendsendungen zeichnen sich durch kurze Schnitte, hektische Kamerabewegungen oder wechselvolle Geräuschkulissen aus. Ruhesequenzen sind verpönt. Die Comicssprache verdeutlicht dieses Staccatoverhalten mit kurzen Worten wie "Ziff" - "Zack" - "Wau" - "Blumm"!
Früher machte man sich noch über den Zappelphilipp lustig, der nie ruhig verweilen konnte. Heute ist nicht das Zappeln, sondern das geistige Zappen, ein Wechseln ohne Fernsteuerung überall verbreitet.


Buchtrend zur Entschleunigung

Peter Heintel Dennoch - möglicherweise ausgerechnet deshalb - sind seit geraumer Zeit Bücher gefragt, die sich für Musse, Langsamkeit, Mediation, Entschleunigung, Verweilen, dem Inne-halten gegen die Beschleunigung, der Geduldsamkeit, dem Warten als Geschenk oder der "Nach-Denklichkeit" stark machen.
Solche Titel haben derzeit Hochkonjunktur. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf das Buch "Innehalten" von Peter Heintel, Professor an der Universität Klagenfurt.
Innehalten


Darin finden wir Gedanken zu:
"Verweilen, Aus-steigen, Sich eine Auszeit gestatten Rast oder Halt machen, Inne-halten, Halt bekommen durch anhalten, Warten als Geschenk, Nach- denklichkeit, Pause, Den eigenen Rhythmus finden Bedächtigkeit, Musse, Ohne Musse kein Nachdenken, In-sich-gehen Über das Warten und das Beschleunigen."
Heintel macht bewusst, das wir in einer Versäumnnisgesellschaft leben und Pausen stets füllen wollen. Wiederholungen machen uns ungeduldig. Erkenntnisse, dass Stillstand die höchste innere Bewegung ist oder Gleichzeitigkeit zur Ewigkeitserfahrung wird, ist ein wertvoller Gedankenanstoss.


Auswirkungen auf die Rhetorik?

Bezogen auf die Rhetorik könnte man sich fragen, ob es auch eine "Zapp-Rhetorik" gibt, die das Zeitproblem der viel zu hektischen Kommunikationsprozesse zu benennen sucht. Bei der rhetorischen Kommunikation, stellen wir aber im Alltag eher ein "Zappverhalten" der Zuhörer fest:
  • Es fällt schwer, zuzuhören, vor allem über längere Zeit.
Das hat aber auch Auswirkungen auf die Sprache:
  • Sprechende zappen vielfach assoziativ von Gedanke zu Gedanke.
  • Da in Diskussionen die Gefahr das Wort zu verlieren gegeben ist, werden Pausen beim Reden unterbrochen.


Auswirkungen auf Präsentationen

Bei Präsentationen (Früher mit Folien - heute mit Power Point) wird viel hektischer visualisiert. Der zu rasche Wechsel kann aber ebenso ein Verständlichkeitskiller sein, wie das zu rasche Präsentieren oder die zu dichte Informationfülle.


Wahrnehmungsveränderung

Wir sind uns bewusst, dass sich sich in der heutigen Zeit die Wahrnehmung stark geändert hat. Nicht nur Jugendliche sind fähig, Informationen auf verschiedenen Kanälen gleichzeitig wahrzunehmen.
Wenn früher während des Unterrichts ein Kind mit dem Tischnachbarn geredet hat, konnte ein Lehrer den "Nichtzuhörer" bitten, seine letzte Aussage zu wiederholen. Der Angesprochene war mit Bestimmtheit unfähig, den Gedanken des Lehrers zu rekapitulieren. Damit konnte der Ausbilder demonstrieren: Es lohnt sich, konzentriert zuzuhören. Und der Blossgestellte erkannte, dass man während einer Erklärung nicht mit dem Tischnachbarn reden sollte.
Diese einfache Methode taugt heute nicht mehr. Jugendliche sind "zapptrainiert": trotz des Partnergespräches wird er einen wesentlichen Teil der Lehreraussage mitbekommen und unter Umständen die Quintessenz ziemlich genau wiedergeben können. Viele Jugendliche sind sogar fähig, auf mehreren Kanälen gleichzeitig "dabei" zu sein. Sie haben die Technik des geistigen "Zappens" perfektioniert. Ein Schüler kann Walkman hören, gleichzeitig mit dem Tischnachbarn sprechen, nebenbei noch dem Lehrer zuhören, etwas mit der rechten Hand zeichnen, lesen und vielleicht zusätzlich gar noch mit dem linken Hand eine SMS versenden.


Ein aufschlussreicher Selbstversuch

Zappen Dass dieses mehrkanalige Tun erlernbar ist, habe ich in einem Selbstversuch getestet. Ich musste einmal mehrere Tage das Bett hüten. Nun zappte ich mit der Fernbedienung über längere Zeit die Kanäle hinauf und hinunter. Nicht nur einmal, sondern unablässig - eine Stunde lang. Am Anfang sah ich immer nur Bruchstücke aus Dutzenden von Filmen und Sendungen.
In einem Krimi hatte ich einen kurzen Einblick in eine Verfolgungsjagd- Im Wildwestfilm sassen die braungebrannten Cowboys um ein Lagerfeuer. Bei der Himalayaexkursion begann die letzte Etappe usw. Allmählich bildeten sich in meinem Gehirn Abfolgen von zusammenhängenden Bildern aller Sequenzen.
Beim Krimi wurden die Gangster verhaftet - Die Cowboys ritten einen Flusslauf entlang - Am Himalaya bildeten sich dunkle Wolken usw. Bei jedem neuen Durchlauf kamen neue "Mosaiksteine" dazu.
Obschon ich durch das Zappen jeweils nur ganz kurze Elemente mitbekam, hatte ich nach zwei Stunden den Eindruck, als hätte ich Dutzende von Filmen "vollständig" erfasst. Ich glaubte, alle Filme verstanden zu haben. Ich war sogar fähig, von jedem Film einen zusammenhängenden Inhalt wiederzugeben. Durch das Zappen komplettierte mein Gehirn die fehlenden Passagen.
Dieser Versuch machte mir bewusst: So wird es allen Zapp-Konsumenten gehen. Sie können - trotz der Oberflächlichkeit - mitreden. Sie glauben möglicherweise, wichtige komplexe Zusammenhänge erfasst zu haben, trotz des Halbwissens (es ist aber nicht einmal ein Halbwissen, sondern viel weniger als 50%).
Ich habe Verständnis für all jene, die unter Zeitknappheit leiden und Bücher nur noch durchblättern oder sich dank erlernter Schnelllesetechnik über ein Fachbuch innert Minuten ins Bild setzen wollen.
Doch hat dieses "Überfliegen" nichts mit einer vertiefenden Auseinandersetzung zu tun.


Fazit

Bei allen Kommunikationsprozessen müssen wir wieder - trotz des "Zapp-Zeitalters"- fähig sein, uns nicht nur oberflächlich zu informieren. Das längere Verweilenkönnen, die vertiefende langsame Auseinandersetzung mit einem Gedanken ist nach wie vor wichtig. Sogar bei Redeprozessen haben lange Aussprachen und das sogenannte "Palaver" einen berechtigten Stellenwert, (trotz der geforderten 30 Sekunden Aussagen bei Meetings). Es gibt Probleme, bei denen es nur dadurch zu einer Annäherung konträrer Meinung kommen kann, wenn sich alle Anwesenden erschöpfend "freireden" (entlasten) dürfen. In Anbetacht dessen, dass wir in der Regel meist Kürze und Prägnanz postulieren, dürfen wir für einmal die Bedeutung des "Aussprechenlassens" bei Kommunikationsprozessen nicht ausklammern.


Literaturhinweise

  • Peter Heintel, "Innehalten", 1999, Herder Verlag


19. Juli, 2003




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