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Streiten - aber wie?
"Rhetorik des konstruktiven Streitens"

von Marcus Knill


Illustration von Faro Burtscher Im folgenden Beitrag geht es um grundsätzliche Erkenntnisse in der Rhetorik des konstruktiven Streitens und Argumentierens.

Die Kunst des Streitens



Ein Taxifahrer aus Thailand erschoss seine Frau, weil sie während der Fussballübertragung Italien - Mexiko auf eine Seifenoper umgeschaltet hatte. Seit Beginn der Fussballweltmeisterschaft am Juni 2002 habe er oft mit seiner Frau gestritten, sagte der Mann bei der Einvernahme. Als die Frau ihm die Fernbedienung einfach weggenommen habe, sei dies für ihn zuviel gewesen. Er habe dann abgedrückt.


Autor mit Sportlern im WDR Steitigkeiten müssen nicht immer zum Gattenmord führen. Wer jedoch das "konstruktive Streiten" nicht gelernt hat, läuft Gefahr, normale Meinungsdifferenzen unverhofft zu gravierenden Beziehungsstörungen ausarten zu lassen.
Wer hat nicht schon erlebt, dass eine kleine beleidigende Bemerkung zu einem irreparablen Streit eskalierte? Es lohnt, sich eingehend mit der "Rhetorik des konstruktiven Streitens" auseinanderzusetzen.
Schwelende Konflikte fordern Zeit, Ärger und Geld. Sie belasten unnötigerweise das Zusammenarbeiten und haben mitunter folgenschwere Auswirkungen auf Gesundheit und Psyche.
Die Streit - Thematik wird in zahlreichen Fachbüchern ausführlich behandelt. Auch eine Fernsehsendung des WDR, die im Laufe des Monates Juni 2002 unter dem Titel "Wissenschaft und Streit" einige Male wiederholt wurde, beleuchtete die wichtigsten Aspekte der Streitthematik. Ein WDR Fernsehteam filmte während eines unserer Medienseminare für eine Sequenz mehrere Stunden lang. Wir konfrontierten dabei junge Sportler mit verschiedensten Situationen, um zu veranschaulichen, wie bei Interviews - trotz Provokationen - geschickt reagiert werden kann. Es ging bei jenem Kapitel um Strategien, mit denen verbalen Konfrontationen geschickt begegnet werden kann. Der Drehtag machte bewusst: Die Mechanismen der Medienrhetorik kennen die wenigsten Menschen. Es genügt nicht, die Gegenstrategieen zu kennen. Ähnlich wie ein Pilot im Simulator übt, können auch Konfrontationssituationen trainiert werden. Ohne Training eskalieren banalste Auseinandersetzungen oder verbale Streitgespräche rasch zu endlosen Streitereien.


Grundsätzliches

Streiten kann fast jeder - und fast jeder tut es auch: mit dem Partner, mit den Kindern, mit Kollegen usw. Konstruktiv und fair streiten hingegen kann nicht jeder. Diese Kunst muss erst erworben werden.
Ausgangspunkt von Streitigkeiten sind meist kleine Destabilisierungs - oder Irritationsspielchen; mitunter auch gezielte Provokationen.
Wer konstruktiv streiten lernen will, muss die wichtigsten Kommunikationsphänomene bei Auseinandersetzungen nicht nur kennen, sondern er muss sie vor allem bei überraschenden Situationen - beispielsweise in der Hitze des Gefechtes oder unter Druck - auch sofort erkennen. Das konstruktive Streiten lässt sich verhältnismässig rasch erlernen. Voraussetzungen dazu sind eine gute Wahrnehmung, sowie die Fähigkeit, aktiv zuzuhören.
  • wenn wir die Phänomene nicht erkennen d.h. registrieren, können wir die Gegenstrategieen nicht richtig anwenden.
  • Wir müssen die Aussagen des Gegenübers vollständig anhören und dürfen kein Wort überhören.
Bei verbalen Auseinandersetzungen hat deshalb das Zuhören höhere Priorität als das Reden. Dank des konzentrierten Zuhörens gelingt es, Missverständnisse, Unterstellungen oder bösartige Taktiken rascher zu erkennen und zu entlarven.


Werkzeuge

Folgende "Werkzeuge" haben sich bei Streitigkeiten bewährt:

Beschreiben statt interpretieren

"Sie schreien mich an!" (Fakten konkret beschreiben) In der Regel massregeln wir das Gegenüber oder interpretieren sein Verhalten: "Sie müssen nicht immer so laut schreien! Beherrschen Sie sich!"

Auf Abwertungen und Vorwürfe verzichten

Viele sind sich nicht bewusst, dass beim Reden oft "Psycho-Tretminen" ausgelegt werden. Sätze, Wörter können dann wie Bomben einschlagen. Bestimmte Formulierungen provozieren, verwirren, verspannen, verhindern Verständigung und verursachen sinnlosen Streit. Es gibt aber auch Wörter, die klären, entspannen, vermitteln, die Verständigung fördern und Spannungen lösen können. Viele Konfrontationen lassen sich konstruktiv austragen, wenn die Worte besser ausgewählt werden und auf "Wortbomben" verzichtet wird. Ein Beispiel:

Der Sohn kommt eine Stunde später als verabredet nach Hause. Bevor er etwas sagen kann, empfängt ihn die Mutter mit: "Nie bist Du pünktlich! Immer kommst du zu spät!" Der Sohn antwortet: "Stimmt nicht!" Und schon sind wir mitten im klassischen "Du - hast- Unrecht - ich - hab - Recht - Streit". Dialoge, bei denen der Partner unsere verbale "Tretmine" mit: "Du übertreibst wieder einmal masslos!" Oder: "Stell dich nicht so an!" kontern kann, entfernen uns vom konstruktiven Streiten.




Gefühle und vor allem Fakten konkret formulieren.

Konflikte entzünden sich vor allem an vagen Formulierungen:
  • Wenn wir um dem Brei herum reden,
  • wenn wir nur Andeutungen machen
  • oder wenn wir indirekt streiten.


Angenommen, eine Frau ärgert sich, weil ihr Mann seine Unterhosen - trotz Ermahnungen - wieder herum liegen lässt. In diesem Fall muss die Ehefrau die Fakten genau nennen:
"Erich, du hast am Montag, am Mittwoch und heute morgen wiederum Deine Unterhosen im Schlafzimmer am Boden liegen lassen. Mich ärgert es, wenn ich sie in den Wäschekorb legen muss! Ich habe Dich vor zwei Wochen schon einmal darauf angesprochen. Was meinst du dazu?"


Dank dieser direkten Formulierung der Fakten weiss der Mann, wer, was, wann gemacht hat und kennt auch die Gefühle und Bedürfnisse seiner Frau. Der Weg ist damit geebnet für einen konstruktiven Streit, der sogar in einer Verhaltensveränderung enden könnte. Möglicherweise entschuldigt sich der Mann. In der beschriebenen Formulierung verzichtete die Ehepartnerin auf Andeutungen, Verallgemeinerungen oder Interpretationen. Sie formulierte ohne Vorwürfe und kam direkt zur Sache. Binnen weniger Sekunden lag das Problem auf dem Tisch. Dank dieses professionellen Vorgehens lässt sich konstruktiver streiten.

Fragen stellen

Bei persönlichen Angriffen kann eine Frage helfen.

Beispiel: Ihr Nachbar beschwert sich, weil auf Ihrem Balkon gegrillt wurde. "Ich finde, man lernt in der Kinderstube, dass man auf Nachbarn Rücksicht nehmen soll!" Anstatt sofort zu diskutieren, könnten Sie fragen: "Wollen Sie jetzt über die Rauchbelästigung beim Grillen reden oder über meine Person?"


Beim Streiten lohnt es sich, den Leitspruch zu beherzigen: "Fragen statt sagen".

Unter vier Augen direkt streiten

Nie unter Zeitdruck; aber auch nicht vor "Publikum" streiten. Konstruktives Streiten braucht Zeit, eine ungestörte Atmosphäre und vor allem kein Publikum. Ebenso gilt: In der ersten Phase, nie schriftlich streiten Vergleiche dazu den Beitrag Elektronische Kommunikation .

Mit "ich" Aussagen formulieren



"Ich ertrage diesen Geruch nicht!" Der andere findet vielleicht den Geruch angenehm und meint: "Der ist ja gar nicht schlimm." Meine Aussage: "Ich ertrage diesen Geruch nicht!" kann als Ich- Aussage nie widerlegt werden. Denn: Sie stimmt für mich immer. Meine Wahrnehmung ist und bleibt (für mich) wahr. Deshalb ist eine Ich - Aussage auch dann "richtig", wenn sie bestritten würde. In diesem Fall könnte ich die eigene Wahrnehmung wiederholen z.B.: "Ich habe gesagt: Ich ertrage diesen Geruch nicht. Er stört mich!" Damit ist klar, wen, was stört. Bei Streitprozessen wird leider meist viel zu allgemein geredet; der Sachverhalt wird vage formuliert: z.B. "Das ist ein grauenhafter Gestank!"


Verzichten wir auf generellen Behauptungen! Behauptungen können stets problemlos widerlegt werden, denn es riecht auch in diesem Fall nicht für alle gleich unangenehm. Die Argumentation endet bei Verallgemeinerungen oft in langwierigen Streitereien.

Spiegeln der Aussage

Im Beitrag aktives Zuhören werden alle Techniken des "Spiegelns" ausführlich beschrieben. In ungezählten Seminaren haben wir festgestellt, dass nur jene Personen über der Sache stehen, die gelernt haben, die Aussagen des Gegenübers ernst zu nehmen. Beispiel:

Eine Mutter sagt zum Lehrer: "Sie geben viel zu viele Hausaufgaben. Trudi wacht nachts auf und weint stundenlang, weil es nicht alle Aufgaben machen konnte." Ein ungeschulter Lehrer rechtfertigt sich sofort und beweist, dass er wenig Aufgaben gegeben hat. Hierauf wird längere Zeit darüber debattiert, wer nun recht hat. Eine Lehrperson, die über der Sache steht und das Problem wichtiger nimmt, als die eigene Person, ist fähig, den Vorwurf der Mutter zu wiederholen: "Habe ich richtig verstanden? Trudi wacht nachts auf und schreit, weil es die Aufgaben noch nicht gemacht hat?" Dank dieses Spiegelns merkt die Mutter, dass der Lehrer ihr zugehört hat (sonst könnte er ja das Anliegen gar nicht paraphrasieren.) In der Regel fährt dann die Mutter gemässigter weiter und liefert möglicherweise wertvolle Zusatzinformationen.


Anstatt die "Meinungsdifferenz" zu einem Streit eskalieren zu lassen, folgt durch das Ernstnehmen des Problems ein hilfreicher Schritt in Richtung konstruktiver Lösungsansatz.

Reflektierendes Reden

Es lohnt sich immer, schon vor dem Reden zu überlegen, was zu sagen ist. Siehe dazu die Beiträge:

Streitgespräch lenken

Es ist normal, dass sich Menschen bei Überraschungen, Unterstellungen, Beleidigungen oder Provokationen leicht aus dem Konzept bringen lassen. Die Eskalation des Streites ist dann vorprogrammiert. Es gibt eine "eskalierende Dynamik". Wenn wir hingegen bei einer Emotionalisierung sofort ein Stoppsignal setzen, so ist es möglich, ohne Zeitverlust, rasch zum eigenen "roten Faden" zurückzukehren.

Kleinliche Äusserungen überhören

Zur Kunst des konstruktiven Streitens gehört auch das Überhören von rachsüchtigen Äusserungen. Auch kleine Bemerkungen wie beispielsweise "Auch ein Gläschen Wein ist schon Gift" oder Bemerkungen, auf die es im Augenblick keine passende Antwort gibt, dürfen ohne Weiteres überhört werden. Überhören ist im Zweifelsfall auch den sogenannten "treffenden Bemerkungen" vorzuziehen, wobei "treffend" wortwörtlich genommen werden kann: Die Bemerkung kann betroffen machen. Im Wort "Erwiderung" befindet sich das "wider=gegen". Darin stecken Begriffe wie - Gegnerschaft, Reibereien, Kampf. Wer im richtigen Augenblick schweigt, kann oft besser streiten, weil er nur dort streitet, wo es sich lohnt.

Antizyklisch verhalten

Streitprozesse sind immer von Emotionen geprägt. Deshalb lohnt es sich, Gegensteuer zu halten und bewusst kopflastiger zu agieren. Wir haben im Beitrag Balance darauf hingewiesen, dass wir uns der Gegensätze von Kopf-Bauch bewusst bleiben müssen. Sobald das Denken vorwiegend über die Emotionen gesteuert wird, lohnt es sich, gezielt gegenzusteuern, um sich vom emotionalgesteuerten Verhalten zu lösen. Konkret gilt bei Emotionalisierungen: Kopf einschalten! d.h. Weg von der Emotionsebene hin zur Sachebene!


Die Wissenschaft des Streits

Die Wissenschaft vom Streiten ist ein Gebiet der Verhaltenspsychlogie. Angrenzende Gebiete sind die Spieltheorie, die Hirnforschung, die Tierpsychologie, die künstliche Intelligenz (AI), Konfliktforschung und nicht zuletzt die Rhetorik. Die folgenden Punkte sind im Beitrag Wissenschaft vom Streiten des WDR eingehender behandelt:
Streiten in den Medien Jerry Springer Show Medien brauchen Emotionen. Nicht nur bei Kriminalfilmenbrauchen die Helden Hindernisse und Gegner. Bei Fernsehshows wie zum Beispiel der Springer Show , bei Big Brother serien oder bei Seifenopern bilden Streit und Intrige Schwerpunkte. Auch Diskussionsrunden können zu Streitgesprächen werden. Diskussion
Wettstreit im Sport Otto Adang Während Sportwettkämpfe schon Wettstreite an sich sind, greift die Konfrontation bei manchen Sportarten auch auf die Zuschauer über. Verhaltensforscher wie Otto Adang an der Holländischen Polizeiakademie untersuchen Gruppenphenomene (Hooligans) sowie der Einfluss von Drogen (z.B. Alkohol).
Hirnforschung Niels Birbaumer Hirnforscher wie Niels Birbaumer von der Universität Tübingen befassen sich heute mit physiologischen Aspekten des Streites. Untersuchungen des Vorderhirn mittels Kernspintomographiem oder Positronenemissionstomographie von soziopathen Menschen zeigen, dass bei ihnen das Vorderhirn nicht so aktiv ist. 1848 flog bei einer Explosion eine Eisenstange mitten durch den Schädel von Phineas Gage. Letzterer überlebte, suchte danach aber bei jeder Gelegenheit Streit. Auch Angeborene mit defekten Vorderhirnen sind nicht streitfähig. Phineas Gages Kopf
Psychologie Maria von Salisch Maria von Salisch, Psychologin an der Freien Universität Berlin untersuchte geschlechtsspezifische Merkmale beim Streit: Während mimische Subtilitäten häufiger bei Mädchen sind, gibt es bei Knaben eher handfesten Streit. Kinder Streit
Streit bei Tieren Ameisen Streit Von Einzellern, Ameisen, Pfauen bis zu Pavianen und Elephanten: auch Tiere streiten. Verhaltensforscher bilden durch Tierbeobachtung Streittheorien. Tiere streiten ums Überleben, zum Finden von Paarungspartnern, oder spielerisch mit Spielgefährten. Streit hat evolutionäre Gründe der Streit dient zur Reorganisation. Elephant Streit
Künstliche Intelligenz Joseph Weizenbaum programmierte Eliza, ein Programm zum Studium der Kommunikation von Mensch und Maschine. Es ist ein Vorläufer von heutigen "Chatrobots". Ein Beispiel ist das Alice projekt. AI im Film Odyssee 2000


Fazit

Wir haben wiederholt darauf hingewiesen:


Meinungsverschiedenheiten sind bei allen Kommunikationsprozessen keine Störgrösse. Unterschiedliche Ansichten sind normal. Streiten gehört zur Alltagskommunikation. Konflikte sind immer eine Chance.

Nehmen wir Abschied von dem fragwürdigen Harmoniekult. Jahrelang galt Streiten als Zeichen eines schlechten Betriebs- oder Familienklimas. Streit wurde vermieden. In guten Teams wird gestritten, aber gekonnt! Früher galten nur jene Gruppen als gut, die keine Konflikte hatten. Wir müssen die produktive Streitkultur neu erwerben. Wir können mit wenig Aufwand konstruktiv streiten lernen. Das Schweigen, Verdrängen, Kleinbeigeben ist bei streitähnlichen Kommunikationsprozessen in der Regel falsch. Dank geeigneter Gegenstrategien ist es möglich, aus der Eskalationsspirale bewusst auszusteigen und Streitgespräche konstruktiv zu lenken. Wir glauben, dass weniger Ehen in die Brüche gehen würden, wenn Paare rechtzeitig die Prinzipien des konstruktiven Streitens gelernt hätten. Das Lesen dieser Streitstrategien allein genügt jedoch noch nicht. Es bedarf eines zusätzlichen gezielten Trainings im Simulator. Durch Rollenspiele ist die Streitkultur schneller erlernbar. K+K hilft Ihnen dabei gerne weiter.


Links zur Thematik







29. Juni, 2002

Nachtrag: Interview im Radio DRS MP3

Das Interview fand am 28. November 2007 live im Radio DRS Studio statt.


Nachtrag: Interview im Radio 1 MP3

Radio 1 Interview vom Dezember 2011 über Streiten am Weihnacht.






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