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www.rhetorik.ch aktuell: (3. September, 2004)

Zur Informationspolitik beim Beslan Geiseldrama



Die Informationspolitik nach dem jüngsten Geiseldrama in Beslan in Russland gibt erneut zu denken. Vladimir Putin schwieg zuerst nach dem Fisko. Die Zahlen der Toten wurden erst bestätigt, nachdem Beobachter die Zahlen genannt hatten. Es soll hunderte von Toten gegeben haben. Die Anzahl der Geiseln stellte sich nun als viel grösser heraus als offiziell angegeben.

Putin sagte immer, Tschetschenien ist eine interne Angelegenheit die die Weltorganisationen nichts angehe. Nach der Eskalation mit zahlreichen Terroranschlägen, in Russland, den Flugzeugabstürzen und dem jüngsten Blutbad werden nun aber die Weltorganisationen angesprochen.
  • Auch bei der Erstürmung eines Theaters mit Nervengift im Jahre 2002 wurde die Öffentlichkeit zuerst im Dunkeln gehalten.
  • Beim Flugzeugabsturz gab es vorschnelle Dementi.
  • Im jünsten Fall hiess es zuerst, eine Erstürmung sei nicht geplant gewesen, es solle verhandelt werden. Als es im Haus eine Explosion gab, soll aber spontan reagiert worden sein. Offiziell hiess es, man habe sich für eine lange Belagerung der Schule vorbereitet.
Bis jetzt war Putin der Mann der starken Hand. Er hat immer hart gegen Erpressungsversuche reagiert. Auch in diesem Fall war das seine Option. Ob die vielen Toten in diesem Fall zum Bumerang werden? Die Bilder der unschuldigen Opfer, vor allem von Kindern könnte aber auch der Sache der Entführer schaden: die "Rebellen" werden zu "Terroristen".

Die Geschichte zeigt, dass es im Internetzeitalter schwer ist, Sachverhalte unter dem Deckel der Verschwiegenheit zu behalten und Falschinformation (falsche Zahlen) kontraproduktiv sind.


Andere grösser Entführungen im Tschetschenienkonflikt:

Source: BBC Januar 1996: 250 Rebellen hielten 3000 Leute einem Spital in Kizlyar als Geisel. Einige der Geiseln wurden nach Tschetschenien geschleppt. Als sie die Grenze überschritten, wurde angegriffen, einige Geiseln starben.
Source: BBC Oktober 2002: 700 Leute wurden in einem Theater als Geiseln gefangen. 129 Geisen und 41 Entführer starben, als Gas in das Gebäude geleitet wurde, um die Entführer auszuschalten.
August 2004: zwei Flugzeuge stürzen gleichzeitig ab. Ein Bombenanschlag ist wahrscheinlich. Keine Überlebenden. Die Informationspolitik war auch hier fraglich.












Nachtrag vom 4. September:



Ablauf:
  1. Eine Ambulanz sammelt Tote vom Beginn der Geiselname.
  2. Explosionen in der Turnhalle. Das Dach fällt zusammen.
  3. Einige Geiseln rennen. Terroristen schiessen auf sie. Die Truppen schiessen zurück.
Animation zusammengesetzt von Bildquellen BBC.


  • CNN meldet, dass 322 Personen im Geiseldrama ums Leben gekommen sind, darunter 155 Kinder. Offiziell wurde zuerst von 250 Toten gesprochen. Viele seien durch die Explosionen und beim Zusammensturz einer Decke gestorben.
  • Es wird vermutet, dass eine erste Explosion unbeabsichtigt von einem der Entführer ausgelöst worden ist, und das den tragischen Ablauf in Gang gesetzt hatte.
  • 704 Personen, darunter 259 Kinder seien befreit worden, nachdem die Polizei und Militär die Schule gestürmt hatten.
  • Ein Zeuge sagte, dass ein Entführer eine Bombe in einer Turnhalle voll von Kindern gezündet hatte. Es seien 1200 Geiseln in der Gewalt der Entführer gewesen, darunter etwa 800 Kinder.
  • 26 Entführer und 10 der Spezialtruppen wurden beim Sturm getötet. 3 Entführer seien gefangen genommen worden.
  • Nach BBC wird nun vermutet, dass auch bewaffnete Eltern beim Sturm der Schule mitgemacht hätten.
  • Das Geiseldrama hat auch die muslimische Welt erschüttert. In arabischsprachigen Medien wird Selbstkritik geübt - selbst Feinde des Islams hätten keinen größeren Schaden anrichten können.


Putin reiste am Samstag nach Tschetschenien, besuchte Verwundete und traf Lokale Politiker in der traumatisierten Region. Er schloss die Genzen des Krisengebiets.

Man vermutet, die neuest Welle von Terrorangriffen sei eine Reaktion für eine Wahl in Tschetschenien, wo ein von Moskau unterstützter Kandidat die Wahl gewonnen hat.

Die Meinungen sind geteilt, ob die offizielle Version, dass ein Sturm nicht geplant war richtig ist. BBC stellt ein paar Reaktionen aus der Russischen Zeitung "Kommersant" zusammen:

Yury Kobaladze, ehemaliger Sprecher des staatlichen Sicherheitsservice: Aus dem Land verwiesener Geschäftsmann Boris Berezovsky: Alexei Venediktov, Chef der Radiostation "Ekho Moskvy":
"Die Informationen, die von den Behörden geliefert worden sind waren ungenügend. Ich habe nie die offizielle Zahl der Geiseln geglaubt. Es war klar, dass es mehr gab. Aber ich glaube die offizielle Version der Stürmung. Ich glaube, dass es nicht geplant war." "Zu viel wurde von uns verschwiegen. Die Offiziellen haben uns belogen, als sie sagten, es seien 354 Personen in der Schule und nicht 1000. Was für eine Präzision. Ich bin überzeugt, dass der Sturm geplant war. In diesem Land werden die Leute wie Vieh behandelt und die Regierung tut alles, um am Ruder zu bleiben." "Obwohl ich nicht die offizielle Position Putins in der Tschetschenienfrage teile, war ich überzeugt, dass das Gebäude nicht gestürmt werden sollte. Ich glaube die offizielle Version."






Nachtrag vom 5. September: Fachleute rechnen mit mehr Toten. Angeblich sind es bereits 350 Tote. Warum endete die Tragödie so blutig? Ein paar Erklärungsversuche in den Medien:
  • Anti-Terror-Einsätze in Russland enden oft in einem Blutbad, Putin macht keine Kompromisse mit Geiselnehmern.
  • Die Schule wurde unkoordiniert und tagsüber gestürmt weil die Einsatzkräfte nicht genau wussten, wo sich die Terroristen positioniert hatten. Der Auslöser für den Einsatz waren Detonationen und Schüsse auf fliehende Kinder.
  • Die Antiterrortruppen haben nicht das Niveau deutscher, israelischer, britischer oder amerikanischer Spezialeinheiten. Es wurden sogar Zivilisten eingesetzt weil alle verfügbaren Kräfte vor Ort geholt werden mussten. Es wird aber vermutet, dass die Zivilisten Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB waren, die grundsätzlich keine Uniform tragen.
  • 1200, vielleicht gar 1500 Geiseln waren in der Gewalt von Terroristen, die keine Kompromisse zeigten. Eine unblutige Befreiung war unwahrscheinlich. Den Kindern wurden die Kleider ausgezogen und zum Teil Bomben umgehängt. Auch ein angeschossener Terrorist kann noch Sprengsätze zünden.




Nachtrag vom 6. September: Organisationschaos

Ein Korrespondent meinte es herrsche ein Informationschaos. Moderne Informationsstechnologien werden nicht eingesezt. Leute irren mit Fotos von Angehörigen umher. Die Suche nach Vermissten wird nicht organisiert. Eine Domonstration gegen den Terrorismus ist organisiert.

Im Moskauer Kreml kam Präsident Wladimir Putin mit der russischen Regierung zu einer Trauerfeier zusammen. In einer zweitägigen Staatstrauer wird Russland der Opfer des Geiseldramas gedenken. In der kleinen Stadt im Kaukasus begannen derweil die Massenbeerdigungen. In Beslan ist fast ein Drittel der Toten im Geiseldrama noch nicht identifiziert worden.

Unterdessen gibt es mehr Details zum Ablauf der Geiselaffaire. Der Spiegel berichtet: "Russische Medien berichteten unter Berufung auf die Aussagen eines Tatverdächtigen, unter den 32 Geiselnehmern sei es am Mittwoch nach dem Überfall auf das Schulgebäude zu einem tödlichen Streit gekommen. Einige der Terroristen hätten von ihrem Anführer verlangt, die Kinder freizulassen. Daraufhin habe dieser einen seiner Gefolgsleute erschossen und die Sprengstoffgürtel am Körper zweier sogenannter Schwarzer Witwen fern gezündet."

BBC (siehe Bild) beschreibt, was Augenzeugen über die Bedingungen während der Geiselname rekonstruierten. Bomben waren an Wänden, in Basketballkörben und auch an die Decke gehängt worden. Die Terroristen schossen regelmässig in die Luft, um die Geiseln eingeschüchtert zu behalten. Die haben wegen der Hitze die Kleider ausgezogen. Einige sind ohnmächtig geworden.




Nachtrag vom 7. September: Warum muss der Chefredakteur der "Iswestia" gehen?
Der Chefredakteur der angesehenen russischen Tageszeitung "Iswestia", Raf Schakirow, ist zurückgetreten. Dem Sender Radio Liberty sagte Schakirow, sein Rücktritt hänge mit der Ausgabe vom Samstag zusammen, in der das Blatt grossformatige und schockierende Fotos von verwundeten und toten Kindern gezeigt hatte. Die Leitung des Verlages Prof-Media, zu der "Iswestia" gehört, und er hätten unterschiedliche Ansichten über diese Ausgabe gehabt, sagte Schakirow laut einem Interview-Mitschnitt auf der Website Newsru.com. Er ergänzte: "Ich wurde gezwungen zurückzutreten."
Der 44-jährige Schakirow war seit vergangenem Oktober Chefredakteur des Blattes. Er war zuvor unter anderem Chefredakteur der Zeitung "Kommersant" und hatte die Tageszeitung "Gaseta" ins Leben gerufen. Die "Iswestia" ist eine der grössten Tageszeitungen des Landes.

Wir fragen uns: Wollte der Chefredaktor die Wirklichkeit wiedergeben um die Bevölkerung das wahre Gesicht des Terrorismus zu zeigen? Oder ging es ihm um "Einschaltquoten"? Jahrzehntelang hatten die Redakteure in Russland die Zensurschere im Kopf. Es durften keine negativen Bilder gezeigt werden. War die Veröffentlichung ein Verstoss gegen dieses alte Beschönigungsprinzip oder ging es bei diesen Aufnahmen um die Verletzung ethischer Grundsätze bei Darstellungen von Toten?


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