Es ist eine dreiste Geschichte. Und sie wird vom
gefoppten Verlag selbst offen gelegt. Es ist die
beste Reaktion, mit dieser internen Krise umzugehen.
Ein Reporter des SPIEGEL hat in grossem Umfang eigene Geschichten
manipuliert. Durch interne Hinweise und Recherchen erhärtete sich in
den vergangenen Tagen der Verdacht gegen Claas Relotius - der inzwischen
Fälschungen zugegeben und das Haus verlassen hat. Auch andere Medien
könnten betroffen sein.
So lässt sich sagen, dass Claas Relotius, 33 Jahre alt, einer
der auffälligsten Schreiber des SPIEGEL, ein bereits vielfach
preisgekrönter Autor, ein journalistisches Idol seiner Generation,
kein Reporter ist, sondern dass er schön gemachte Märchen
erzählt, wann immer es ihm gefällt. Wahrheit und Lüge
gehen in seinen Texten durcheinander, denn manche Geschichten sind
nach seinen eigenen Angaben sauber recherchiert und Fake-frei, andere
aber komplett erfunden, und wieder andere wenigstens aufgehübscht
mit frisierten Zitaten und sonstiger Tatsachenfantasie. Während
seines Geständnisses am Donnerstag sagte Relotius wörtlich:
"Es ging nicht um das nächste grosse Ding. Es war die Angst vor
dem Scheitern." Und "mein Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde
immer grösser, je erfolgreicher ich wurde."
Die kruden Potpourris, die wie meisterhafte Reportagen aussahen,
machten ihn zu einem der erfolgreichsten Journalisten dieser Jahre. Sie
haben Claas Relotius vier Deutsche Reporterpreise eingetragen, den
Peter Scholl-Latour-Preis, den Konrad-Duden-, den Kindernothilfe-, den
Katholischen und den Coburger Medienpreis. Er wurde zum CNN-"Journalist
of the Year" gekürt, er wurde geehrt mit dem Reemtsma Liberty
Award, dem European Press Prize, er landete auf der Forbes-Liste der
"30 under 30 - Europe: Media" - und man fragt sich, wie er die Elogen
der Laudatoren ertragen konnte, ohne vor Scham aus dem Saal zu laufen.
Diese Enthüllung, die einer Selbstanzeige gleichkommt, ist für
den SPIEGEL, für seine Redaktion, seine Dokumentationsabteilung,
seinen Verlag, sie ist für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
ein Schock. Die Kolleginnen und Kollegen sind tief erschüttert. Auf
dem Flur im neunten Stock des SPIEGEL-Hauses, auf dem Relotius' Zimmer
09-161 lag, sind Belegschaft und Leitung des Gesellschaftsressorts,
in dem er arbeitete, fassungslos und traurig. Ein Kollege, der viel mit
Relotius' Texten zu tun hatte, sagte Anfang dieser Woche, die Affäre
fühle sich an "wie ein Trauerfall in der Familie".
20 Min:
Vor wenigen Wochen wurde er noch mit dem Deutschen Reporterpreis 2018
ausgezeichnet, nun wird klar: Claas Relotius dürfte für den
grössten Betrugsfall in der deutschen Medienlandschaft verantwortlich
sein seit den gefälschten Hitler-Tagebüchern von 1983. Der
in Hamburg lebende Journalist soll, wie am Mittwoch bekannt wurde,
Geschichten manipuliert und Zitate, Quellen und Personen frei erfunden
haben. Das genaue Ausmass des Falles Relotius, der freiberuflich unter
anderem auch für die "NZZ", die "Weltwoche", die "Frankfurter
Allgemeine" und nach nicht belegten Eigenangaben für den "Guardian"
geschrieben hat, ist noch nicht bekannt. Der "Spiegel", bei dem der
Journalist sieben Jahre lang fester Mitarbeiter war, hat zumindest die
ihn betreffenden Fakten in einer medialen Gegenoffensive am Mittwoch
öffentlich gemacht. Aufgeflogen ist Relotius mit einer Reportage
über eine Bürgerwehr in Arizona. "Jaegers Grenze" heisst der
Text, der aktuell noch auf "Spiegel online" zu lesen ist - jedoch neu mit
dem Warnhinweis: "Die Berichterstattung von Claas Relotius steht nach
#Spiegel#-Recherchen unter dem Verdacht weitgehender Fälschungen
und Manipulationen durch den Autor. Der #Spiegel# geht allen Hinweisen
nach und lässt die Artikel bis zu einer weitgehenden Klärung
der Vorwürfe unverändert im Archiv, auch um transparente
Nachforschungen zu ermöglichen." Die Pressesprecherin der im Text
ausführlich zitierten Einheit war stutzig geworden, weil Relotius im
Laufe seiner angeblichen Recherchen nie an sie herangetreten war. Verdacht
hatte zuvor schon dessen Redaktionskollege Juan Moreno geschöpft,
der als Co-Autor der genannten Story wirkte. Er hatte dem Betrüger
nachrecherchiert und diesen mit seinen Erkenntnissen bei Kollegen und
Vorgesetzten gemeldet. Weil Claas Relotius auf der Redaktion allseits
als fleissiger und bescheidener Kollege geschätzt war, schenkte
man den Anschuldigungen Morenos anfänglich keinen Glauben. Noch
Anfang Dezember hätten viele nicht Relotius, sondern Moreno, der mit
seinem Streben den Job riskierte, für den "eigentlichen Halunken"
gehalten. Auch das gibt der "Spiegel" in seiner sehr transparenten
Darlegung der Ereignisse ungeschönt zu.