Bei einer Abschiebung in Nürnberg gabs Gewalt. Man muss sich
fragen, was sich die Polizei gedacht hat, eine Abschiebung in einer
Schule durchzuführen. Die Bilder sind eindrücklich.
Merkur:
Mit einer Sitzblockade und einer spontanen
Demonstration haben mehrere Hundert Menschen in Nürnberg versucht,
die Abschiebung eines 20 Jahre alten Afghanen in sein Herkunftsland zu
verhindern. Die Folge war ein grösserer Polizeieinsatz, es kam zu
tumultartigen Szenen.
Die Polizei wollte den 20 Jahre alten Afghanen am Morgen in einer
Berufsschule während des Unterrichts abholen. Mitschüler
hätten sich daraufhin auf die Strasse direkt vor den Streifenwagen
gesetzt und die Abfahrt blockiert, schilderte ein Polizeisprecher. "Es
wurden dann immer mehr Personen, die sich der Blockade anschlossen". Auf
Facebook und Twitter verbreitete sich ein Aufruf, sich an der
Schüleraktion zu beteiligen. Die Polizei sprach von zeitweise bis
zu 300 Teilnehmern.
Die Einsatzkräfte seien mit einem Fahrrad und zahlreichen Flaschen
beworfen worden. Einem Beamten sei ein Zahn ausgeschlagen worden. Die
Polizei setzte Pfefferspray und Hunde mit Beissschutz ein. Zur Abwehr von
Angriffen seien auch Schlagstöcke verwendet worden. "Es wurde mit
den Schlagstöcken aber nicht geschlagen", betonte der Sprecher. Von
den Demonstranten sei niemand verletzt worden.
Etwa 100 Personen, darunter viele Schüler, marschierten anschliessend
zum Ausländeramt der Stadt Nürnberg, um dort erneut gegen die
Abschiebung des Afghanen zu demonstrieren. "Wir waren allerdings die
falsche Adresse für den Protest", sagte Behördenleiter Olaf
Kuch, der mit einem Teil der Demonstranten sprach. Der Fall liege nicht
mehr bei der Stadt, sondern bei der Zentralen Ausländerbehörde
bei der Regierung von Mittelfranken (ZAB).
Der 20 Jahre alte Afghane wurde in Polizeigewahrsam genommen. Am
Donnerstag soll auf Antrag der ZAB ein Richter darüber entscheiden,
ob er in Abschiebehaft kommt. Zu den Hintergründen des Antrages
wollte sich die Polizei nicht äussern.
Bisher hat Deutschland in fünf Sammelflügen 106 abgelehnte
Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben. Die Abschiebungen sind
umstritten, weil sich in Afghanistan der Konflikt zwischen Regierung
und radikalislamistischen Taliban verschärft und es landesweit
Gefechte und Anschläge gibt. Am Mittwoch gab es einen Anschlag nahe
der Deutschen Botschaft. Es war einer der schwersten seit Jahren. Der
für Mittwoch geplante Sammelflug für eine Abschiebung wurde
deshalb kurzfristig verschoben. Als sich die Nachricht vom Stopp des
Fluges verbreitete, sei Jubel bei den Demonstranten ausgebrochen, sagte
Kuch. Danach habe sich die Versammlung aufgelöst.
Die Vorsitzende der bayerischen Jusos, Stefanie Krammer, kritisierte den
Polizeieinsatz: "Wir sind zutiefst erschüttert von den Bildern, die
uns heute aus Nürnberg erreicht haben." Einen in der Ausbildung und
seit vier Jahren in Deutschland lebenden jungen Menschen während
der Schulzeit aus einem Klassenzimmer zu zerren, zeige "das neue,
erschütternde Ausmass des Abschiebeverhaltens der Bayerischen
Staatsregierung."
Özlem Demir, Stadträtin der Linken Liste Nürnberg,
sprach von "Polizeigewalt gegenüber den Demonstranten". Auch
die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisierte die
Polizeiaktion. "Es ist menschenrechtswidrig und menschenverachtend,
wie hier das Bayerische Innenministerium agiert", sagte Bayerns
GEW-Vorsitzender Anton Salzbrunn.
Nach dem verheerenden Anschlag in Kabul mit Dutzenden Toten wächst
damit der Druck auf die Staatsregierung, sich nicht mehr an Abschiebungen
nach Afghanistan zu beteiligen. Die Bundesregierung habe zwar einen
aktuell geplanten Abschiebeflug gestoppt. "Dieser Stopp muss aber
auf unbestimmte Zeit ausgeweitet werden, bis eine Neubewertung der
Sicherheitslage in Afghanistan vorliegt", verlangte SPD-Landeschefin
Natascha Kohnen am Mittwoch.
Grünen-Landeschefin Sigi Hagl klagte: "Was für eine zynische
Logik: Es bedarf erst eines schweren Anschlags nahe der Deutschen
Botschaft, damit die Bundesregierung endlich versteht, dass Afghanistan
nicht sicher ist. Ja, es herrscht Krieg. Und es ist kaltblütig
und inhuman, Menschen in dieses Land abzuschieben."
Auch der Bayerische Flüchtlingsrat forderte einen sofortigen
Abschiebestopp. Es könne nicht sein, dass alle anderen
Bundesländer Zurückhaltung übten "und nur Bayern brachial
abräumt", sagte der Sprecher des Flüchtlingsrats, Stephan
Dünnwald. "Keinem einigermassen vernünftigen Menschen ist diese
Bedenkenlosigkeit erklärlich." Ein Sprecher des Innenministeriums
sagte zu den Forderungen von Opposition und Flüchtlingsrat,
für die Bewertung der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan sei
die Bundesregierung zuständig.
Spiegel: