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www.rhetorik.ch aktuell: (24. Sep, 2015)

Diskussion um eine Statue von Karl Geiser

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:
In Schaffhausen kam es zu einem Medienwirbel, weil in der Kantonsschule die Jünglingsfigur entfernt wurde. Die Begründung war, dass der Künstler Karl Geiser pädophil gewesen sei. Die Öffentlichkeit konnte diesen Entscheid nicht nachvollziehen. Edi Schwyn hat in den Schauffhauser Nachrichten dafür plädiert, dass man von der Person eines Künstlers und seinem Werk differenzieren soll:

"An der Schwelle zum Erwachsenwerden" (Die Jünglingsfigur von Karl Geiser)

Eduard Schwyn

Im Mittelpunkt der Diskussion über die entfernte Geiser-Skulptur steht das Verhältnis: Leben in der realen Welt - Ausdrucksgestaltung in der Welt der Kunst.

Da stand jemand nackt da, im Zentrum des schulöffentlichen Raums der Kantonsschule Schaffhausen. Der da entblösst stand, ist nicht aus Fleisch und Blut. Der leicht erhöht auf einem Sockel stehende Jüngling wurde in Bronze gegossen, ist daher unbeweglich, erscheint in seiner Haltung wie im Moment erstarrt. Das eigentliche Original wurde vom Künstler Karl Geiser (1898-1957) Schicht um Schicht mit dem Werkstoff Gips gebildet und später als plastische Vorlage für den Abguss genommen. Während fünfzig Jahren stand die Skulptur an ihrem Ort im Lichthof des Förderer-Gebäudes, nun wurde sie unverhofft entfernt. Die Begründung für diesen Schritt: Nicht die Nacktheit der Figur, vielmehr das dahinter liegende schiere Wissen um die angeblich pädophile Neigung des Künstlers, erregte öffentliches Ärgernis seitens der Schulleitung.

Frontal stehende Jünglingsfiguren haben in der Kunstgeschichte eine weit zurückreichende Tradition. Die Abbildung oben zeigt eine sehr berühmte griechisch-archaische Jünglingsskulptur, nämlich den nach seinem Fundort benannten Kuros von Anavyssos (552 v. Chr.). Wir kennen weder den Namen des Künstlers, noch haben wir Kenntnis darüber, ob er sein Leben den damals geltenden Verhaltensnormen entsprechend in moralischer Rechtschaffenheit gelebt hat. Was von ihm für uns erhalten geblieben ist, ist einzig und allein die von ihm aus Stein gebildete Skulptur. Diese Jünglingsfigur ist eine von mehreren, in ähnlicher Haltung und Wirkungsabsicht gestalteten Figuren aus dieser frühen Zeit. Es wird angenommen, dass diese Figuren in der Zeit ihrer Entstehung das Ideal des gereiften Jünglings verkörperten. Es hat sich wohl um Grabstelen gehandelt, die die Verstorbenen in ihrer Blütezeit darstellten. Diese Figuren treten uns nicht düster und sich als aggressiv gebärdende Krieger entgegen, im Gegenteil, sie öffnen sich dem Betrachter mit einem leisen Lächeln. In einer ähnlichen Haltung erlebe ich die angesprochene Skulptur von Geiser, sie ist in ihrem körpersprachlichen Ausdruck und ihrer zutiefst menschlich warmen Ausstrahlung unmittelbar zugänglich.

Kunstwerke sind natürlich immer auch ein Teil der Lebenswirklichkeit ihres Schöpfers, sind immer Ausdruck des momentanen Daseins eines Menschen. Anlass für den schöpferischen Akt ist wohl immer die Verwurzelung in subjektiver Betroffenheit. Darin eingeschlossen sind auch erotische Impulse, der Trieb des Eros und die Sehnsucht nach seiner Erfüllung. Zusammen auch mit dem polaren Todestrieb sind sie Energien des Gestaltungsaktes, in dem Bewusstes und Unbewusstes, äussere und innere Realität unauflöslich ineinander verwoben sind. Im künstlerischen Tun, in der Literatur wie in der bildenden Kunst können auch sublime Energien als Ersatzhandlungen in der Gestaltung ausgelebt werden und zur Lebensbewältigung des Kunstschaffenden beitragen. Hoffnungen, Sehnsüchte und unerfüllte Wünsche können ins Werk einfliessen und anschaulich manifest, allenfalls von der Gesellschaft im Kunstwerk auch akzeptiert werden.

Sollte die sexuelle Neigung des Gestalters dieser Jünglingsfigur in sein Werk eingeflossen und dort ablesbar sein, nähme die Diskussion einen wesentlich andern Verlauf. Dies vor allem, weil die Figur im öffentlichen Raum steht. Nicht etwa die geäusserte Kritik der pädophilen Neigung des Künstlers, sondern deren Übertragung auf sein geschaffenes Werk, ist für mich im Anblick dieser Figur unhaltbar.

Dieses Ansinnen vermag der Figur in ihrer würdevoll strahlenden Schlichtheit nichts anzuhaben. Sie ist vollendeter Ausdruck einer Vergegenwärtigung: Der junge Mensch an der Schwelle zum Erwachsenwerden. An ihrem angestammten Ort bringt dieses Werk menschliche Wärme in die kühle Atmosphäre des Lichthofs. Durch die Rücknahme ihres Entscheids verliert die Schulleitung keineswegs ihr Gesicht, im Gegenteil: Sie gewinnt an Profil.

Eduard Schwyn ist Kunstpädagoge, ehemaliger Lehrer für bildnerische Gestaltung an der Kantonsschule. Er arbeitet als Kunstschaffender.



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