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www.rhetorik.ch aktuell: (07. Apr, 2014)

Neue Schnellleseapp

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250 Wörter pro Minute.


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600 Wörter pro Minute.

Psycholinguistik ist ein Teilgebeiet der Kognitionswissenschaft im Verbindungsteil von Psychologie und Linguistik.
Heute ist nicht nur die Sprachentwicklung oder Erlernung von Kindern interessant, sondern auch wie unsere Sprache und Leseverhalten verändert wird. Wir haben im Zeitalter von Twitter Problem lange Texte zu lesen. Die Lösung sollen Technologie für das Smartphone bringen. So gibt es schon bald Apps, die den Text optimal zentriert auf den Bildschirm zeubern, sodass man leicht mit 600 Woertern pro Minute lesen kann. So jedenfalls verspricht das die Werbung. Ob man nach ein paar Stunden Kopfweh bekommt, ist eine andere Frage.
Der Spiegel berichtet über eine App Spritz, die "Rapid Speed Reading" lehrt. Die Technik verspricht, dass man einen Roman von 1000 Seiten in 10 Stunden lesen kann.
Eine App, die die Art revolutioniert, wie wir lesen? Die uns Texte bis zu viermal so schnell erfassen lässt? Über kaum eine Software wurde in den vergangenen Wochen so begeistert berichtet wie über "Spritz". Ab Mitte April dürfte die Schnelllese-App zahlreichen Smartphone-Nutzern begegnen: Sie soll auf Samsungs kommendem Flaggschiff-Handy Galaxy S5 vorinstalliert sein und auch die Smartwatch Galaxy Gear 2 soll "Spritz" standardmässig an Bord haben. Ein Entwickler-Kit macht es aber auch andere Firmen möglich, "Spritz" in ihr Angebot einzubauen. Die Besonderheit ist ein Display, in dem jeweils ein Wort nach dem anderem erscheint, in regulierbarer Geschwindigkeit. Dadurch, dass das Auge nicht mehr von Wort zu Wort springen muss, sondern auf der gleichen Stelle im Display verharren kann, soll sich beim Lesen jede Menge Zeit sparen lassen. Doch hat "Spritz" wirklich das Potential, das Leseverhalten vieler Menschen zu verändern? Wir haben einen renommierten Leseforscher gefragt.
Herr Engbert, bei fast allen Testern stiess
"Spritz" bislang auf positive Reaktionen. Die App scheint das Lesen
tatsächlich schneller zu machen.

Ralf Engbert: Ja, "Spritz" funktioniert. Aus der Forschung wissen
wir, dass wir beim Lesen üblicherweise länger auf
einem Wort verweilen als für seine Verarbeitung nötig
wäre. Experimente haben gezeigt, dass schon ungefähr die
Hälfte der Fixationsdauer ausreicht. Diese Erkenntnisse macht sich
"Spritz" zunutze - die App zeigt die Wörter gerade lange genug.

Wie innovativ ist die Idee?

Engbert: Der wissenschaftliche Ansatz ist nicht neu. Im Prinzip basiert
die Funktionsweise auf einer bekannten Technik, der Rapid Serial Visual
Presentation. Ziel dabei ist es, Sakkaden zu vermeiden, das heisst:
schnelle und spontane Augenbewegungen, die beim Lesen Zeit kosten.

Auf der "Spritz"-Website heben die Macher hervor, dass das
Display Wörter abhängig von ihrem "Optimal Recognition Point"
(ORP) positioniert, dem Punkt, an dem der typische Leser das Wort erkennt.

Engbert: Dieses Beharren auf dem ORP dürfte Marketinggründe
haben, in der Wissenschaft existiert der Begriff nicht. Der Punkt, den
man fixieren muss, damit die Wortverarbeitung am schnellsten geht, ist
als Effekt der Optimal Viewing Position (OVP) bekannt - ein etablierter
Effekt, dazu wird seit Jahrzehnten publiziert. Man weiss, dass man
Wörter ungefähr in der Mitte fixieren muss.

"Spritz" präsentiert dem Nutzer immer nur einzelne
Wörter. Wie wirkt sich das aufs Textverständnis aus?

Engbert: Es leidet sehr. Lesen ist nicht Hören, das ist eine andere
Art der Sprachverarbeitung. Normalweise variiert die Lesegeschwindigkeit
je nach Passage, gerade bei längeren Texten. Wer eine Geschichte
verstehen will, macht sich beim Lesen Nebengedanken, die mentale
Aktivität ist mehr als das Verstehen einzelner Wörter. Zehn
Prozent aller Sakkaden sind rückwärtsgerichtet, man schaut also
in die Textregionen, die man bereits gelesen hat. Das geht bei "Spritz"
gar nicht.

"Spritz" eignet sich also nicht zum Romanlesen?

Engbert: Ich halte es für völlig unplausibel, dass man "Harry
Potter" in 77 Minuten lesen kann, wie manche Medien vorrechneten. Man
würde die Story höchstens oberflächlich aufnehmen und
könnte wohl nicht nachvollziehen, was den literarischen Wert des
Buchs ausmacht. Oder stellen Sie sich eine Geschichte vor, in der
langsam klar wird, dass der Erzähler ein Lügner ist - da
müssten Sie sich bei jedem Satz Hintergedanken machen. Dafür
ist es hinderlich, dass die App Ihre Aufmerksamkeit extrem auf den
Wörter-Strom fokussiert.

Was bringt das Schnelllesen dann überhaupt, wenn
es bei Büchern oder längeren Texten eher von Nachteil ist?

Engbert: Beim Lesen ist die Intention entscheidend. Prinzipiell ergibt
es schon Sinn, sich Schnelllesetechniken anzugewöhnen, weil man
gar nicht alle Texte gleich tief verarbeiten will. Und mit "Spritz"
lassen sich Texte ja tatsächlich schneller lesen. Man darf nur nicht
erwarten, dass das Zauberei ist, und man dieselben Informationen einfach
nur schneller aufnimmt. In der Regel geht jede Geschwindigkeitssteigerung
auf Kosten des Verständnisniveaus.

Mit "Spritz" sollen theoretisch Lesegeschwindigkeiten
von bis zu tausend Wörtern pro Minute möglich sein. Halten
Sie das für realistisch?

Engbert: Im Alltag sind Lesegeschwindigkeiten von 250 bis 300
Wörter typisch, aber da geht schon mehr. Experimente legen nahe,
dass das Limit ungefähr bei tausend Wörtern liegt. Die
Wortverarbeitungszeit liegt dann bei 60 Millisekunden, normal sind
circa 100.

Glauben Sie, dass sich "Spritz" bei der breiten Masse
durchsetzt?

Engbert: Eher nicht. Die App ist auf eine Sache optimiert: in
möglichst kurzer Zeit einen Text durchscannen, bei nicht sehr
hohem Verständnisniveau. Ihr Einsatz ist deshalb nur in Nischen
sinnvoll, etwa fürs Übermitteln kurzer Nachrichten auf kleinen
Displays. Dass mit "Spritz" Eilmeldungen oder E-Mails auf Smartwatches
gelesen werden, halte ich am ehesten für plausibel. 

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