Die These besagt, dass die zunehmende Informationsflut durch
Nachrichtenwebsites, Twitter, Facebook und Youtube uns ablenkt, uns
weniger aufnehmen und nachdenken lässt - dass sie uns schlicht
macht. Welche Auswirkungen das Internet tatsächlich
auf unser Gedächtnis hat, wurde bislang aber nicht empirisch
erforscht.
Erste Experimente dazu hat nun die Psychologin Betsy Sparrow von
der Columbia University durchgeführt und im Fachblatt Science
veröffentlicht, wie das Magazin Technology Review berichtet.
Sparrow teilte dazu Studenten in zwei Gruppen ein und liess sie kurze
Statements lesen und am Computer aufschreiben. Der einen Gruppe
wurde im Vorfeld gesagt, dass die abgetippten Statements anschliessend
gespeichert würden, während der anderen erzählt wurde,
dass man die Texte dann löschen werde. Der Hälfte jeder
Gruppe wurde ausserdem aufgetragen, sich neben dem Abtippen die
Statements bewusst einzuprägen.
Dabei stellte sich heraus, dass die Studenten, die wussten, dass die
Statements wieder gelöscht werden, sich besser an sie erinnern
konnten. Und zwar unabhängig davon, ob sie den Auftrag hatten,
sich die Informationen bewusst zu merken oder nicht.
In einem zweiten Experiment wurde einem Teil der Studenten gesagt,
dass die abgetippten Statements in einem bestimmten Ordner auf dem
Computer gespeichert würden. Bei der Auswertung zeigte sich,
dass die Studenten sich besser an den Ort erinnern konnten, an dem
die Information zu finden ist, als an die Information selbst.
Daraus leitet das Forscherteam um Sparrow ab, dass wir uns
wahrscheinlich weniger gut Fakten einprägen, wenn wir wissen,
dass wir sie leicht nachschauen können. Der Ordner auf dem
Computer kann dabei durchaus gleichgesetzt werden mit beispielsweise dem Internet.
Diese Theorie erweitert die bislang geltenden Modelle, wie wir Zugang
zu unserem Gedächtnis finden. Daniel Wegener, Psychologe
an der Harvard Universität und Co-Autor der neuen Studie, schlug
bereits vor 30 Jahren die Idee vom transactive memory vor, von einem
kollektiven sozialen Gedächtnis.
Artikel:
Die Theorie betrachtet das Gedächtnis als ein Team von
Kollegen. Auch in diesem weiss nicht jeder alles, sondern das gemeinsame Wissen ist
eine Summe der Dinge, die jeder Einzelne weiss. Wir merken uns dabei
vor allem die Meta-Information: Wer etwas weiss. Die Idee von Sparrow
und Wegner ist, dass das Internet - dank Suchmaschinen wie Google -
eine ähnliche Funktion hat: dass es also eine Erweiterung unseres
Gedächtnisses sein kann.
Schliesslich googeln wir auch alte Schulfreunde, suchen nach Artikeln
oder schauen den Namen des Schauspielers nach, der uns auf der Zunge
liegt - schliesslich sind solche Informationen dank Suchmaschinen
nur einen Klick entfernt.
"Sparrows Studie zeigt, wie flexibel unser Gehirn ist, wenn es um die
Anpassung an unsere Werkzeuge geht", zitiert Technology Review den
Autor Nicolas Carr, dessen Buch The Shallows: What the Internet Is
Doing to Our Brains gerade für den Pulitzerpreis nominiert ist.
Allerdings sieht Carr diese Anpassung nicht positiv: "Es ist wirklich
wichtig, dass es einen Unterschied zwischen externem und internem
Gedächtnis gibt", sagt er. "Wenn man etwas nicht verinnerlicht,
dann wird das Verständnis weniger persönlich, weniger
unverwechselbar und in letzter Konsequenz oberflächlicher."
Sparrow selbst sieht diesen Prozess hingegen positiv. Unser
Gedächtnis passe sich dem Internet an, genau wie es sich in
der Vergangenheit auch an andere "Technologien" angepasst habe,
beispielsweise an das geschriebene Wort.
Sie arbeitet nun daran, mögliche Vorteile des Internets
als externes Gedächtnis mit weiteren Experimenten zu
überprüfen. Dabei hat sie folgende Theorie: Wenn wir wissen,
dass Details später noch irgendwo abrufbar sind, konzentrieren
wir uns mehr darauf, den Kontext von Informationen zu erkennen. Solche
Zusammenhänge würden uns entgehen, wenn wir uns in Details
verzetteln.
Doch gibt es auch Kritiker der Ergebnisse. Technology Review zitiert
Mary Potter, Psychologin am Massachusetts Institute of
Technology. Sie sagt, Sparrows Studie unterstütze zwar
die verbreitete Ansicht, dass wir Menschen Werkzeuge wie Zettel oder
Festplatten nutzen, um uns Informationen zu merken. Jedoch seien die
Ergebnisse der Studie nur gerade eben statistisch signifikant. Als
gesicherten Fakt solle man sie daher nicht ansehen, sondern nur als
eine Möglichkeit.
Ausserdem merkt Potter demnach an, dass es nicht unbedingt ein
psychologisches Phänomen sein müsse, was Sparrow da
beobachtet habe, es könne auch ein soziologisches sein: "Wenn
ein Freund sein Smartphone hervorholt, um Informationen zu einer Band
nachzuschauen", könne er das auch tun, "weil es Spass macht"
und nicht, weil unser Gehirn sich verändert hat und nun anders
Informationen speichert.