Quelle: Bundespraesident.de:
Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Jahrestag der
Deutschen Einheit 03.10.2010 Bremen

Wir feiern heute, was wir vor 20 Jahren erreicht haben: Einigkeit und
Recht und Freiheit für unser deutsches Vaterland. Wir erinnern uns
an jenen epochalen Tag, wie ihn ein Volk wohl nur ganz selten erlebt. Ich
denke an diesem Tag an die Bilder aus Berlin, in der Nacht vom 2. auf den
3. Oktober. An die Menschen, die vor dem Reichstagsgebäude standen.
An die gespannte Erwartung in den Momenten vor Mitternacht. An den
Klang der Freiheitsglocke. An das Hissen der Fahne der Einheit. An die
Nationalhymne. An das Glücksgefühl. An die Tränen. An den
Zusammenhalt in diesem historischen Augenblick unserer Geschichte. Auch
20 Jahre später erfüllt mich dies mit grösster Dankbarkeit.

Seit 20 Jahren sind wir wieder "Deutschland einig Vaterland". Doch
was meint "einig Vaterland"? Was hält uns zusammen? Sind wir
zusammengewachsen, trotz aller Unterschiede?

Eine erste Antwort liegt auf der Hand: Es ist die Erinnerung an unsere
gemeinsame Geschichte. Zu ihr gehört, dass wir an alle denken,
die diese Einheit möglich machten. An die Bürgerrechtlerinnen
und Bürgerrechtler, die beharrlich gegen eine Diktatur Widerstand
geleistet haben. Die verstorbene Bärbel Bohley war eine von
ihnen. Sie hat gezeigt, was Mut bewegen kann und hat damit vielen
anderen Menschen Mut gegeben. "Nichts war uns zu gross, als dass wir es
nicht angepackt, nichts war uns zu klein, als dass wir uns nicht darum
gekümmert hätten", das war so ein Satz von ihr. Er berührt
mich bis heute. Und ich verneige mich vor Bärbel Bohley und allen,
die für die Freiheit gekämpft haben.

Unsere Kirchen gaben dem aufbrechenden Mut zur Freiheit ein Obdach.
Viele Menschen fühlten: Es muss sich etwas ändern. Aber
durch das Gefühl ändert sich noch gar nichts. Ich muss
etwas ändern. Und es begann - mit den Montagsgebeten und den
Montagsdemonstrationen. Erst gingen wenige, dann immer mehr Mutige auf
die Strassen, überall in Ostdeutschland. Es wurde zum "Wunder von
Leipzig". Mit seiner Wucht und seinem friedlichen Verlauf war es wirklich
ein Wunder, ein Wendepunkt. Bewirkt von Menschen. Sie haben sich selbst
aus der Diktatur befreit - ohne Blutvergiessen. Der Freiheitswille der
Menschen war immer da - ungebrochen. Doch jetzt war die Zeit da. Und
was 1953 noch von Panzern niedergewalzt wurde, konnte 1989 nicht mehr
aufgehalten werden. Das ist die eigentliche historische Leistung der
Menschen. Ihr Mut hat die ganze Welt beeindruckt.

Ohne die europäische Freiheitsbewegung ist die deutsche Einigung
nicht denkbar. Nicht ohne die polnischen Arbeiter mit dem polnischen Papst
im Rücken, Johannes Paul II., der vor Ort predigte, "Fürchtet
Euch nicht!".  Die "Solidarnosc" hat Stück für Stück ihre
Freiheit erkämpft und damit letztlich auch unsere. Das sage ich
besonders gerne hier in Bremen, der Partnerstadt von Danzig. Die Einheit
wäre auch nicht möglich gewesen ohne Michail Gorbatschow, der
im Zuge von Glasnost und Perestroika den Machtanspruch der Sowjetunion
aufgab, über andere Länder zu herrschen und so Selbstbestimmung
in Deutschland ermöglichte. Nicht ohne die ungarische Regierung,
die die Grenze als erste geöffnet hatte. Russen, Polen, Ungarn -
das war grosse Hilfe von Freunden, von denen wir es doch so eigentlich
nicht erwarten konnten, wenn man an die erste Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts denkt.

Wir erinnern uns an die Monate, in denen Vertreter von Volkskammer und
Bundestag um die vielen kleinen Schritte zur deutschen Einheit rangen.
Es war eine beispiellose Leistung von Politik und Verwaltungen in beiden
Teilen Deutschlands, was hier bis zum 3. Oktober 1990 vollbracht wurde.

Es gab Ängste und Widerstände. Vor allem im Ausland fragten sich
viele, ob das gutgeht, wenn es Deutschland wieder gutgeht. Wer wollte
ihnen das verdenken, nach den von Deutschland ausgehenden Irrwegen,
Schrecken und Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Weitsichtige Staatsmänner halfen, die Ängste und
Widerstände zu überwinden: Helmut Kohl und Hans-Dietrich
Genscher gemeinsam mit Lothar de Maizière. Wegbereiter waren Konrad
Adenauer, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Sie alle haben Vertrauen in der
Welt geschaffen. Ohne dieses Vertrauen hätte es die Wiedervereinigung
so nicht gegeben. Das waren grosse Leistungen von Politik und Diplomatie
in den vergangenen Jahrzehnten. Die Wiedervereinigung wäre so auch
nicht möglich gewesen ohne unsere Freunde im transatlantischen
Bündnis, die über vierzig Jahre hinweg die Freiheit der
Bundesrepublik und West-Berlins garantiert hatten. Die Unterstützung
der Einigung durch George Bush sen. werden wir nicht vergessen. Für
all das sind wir unendlich dankbar.

Deutschland konnte als Ganzes wieder zum gleichberechtigten Mitglied
der Völkergemeinschaft werden. Wir sind umgeben von Freunden. Welch
ein grosses Glück - für unser Land und alle Menschen in Europa.

Aus zwei Staaten wurde einer. Das war nicht ohne Probleme. Aber es gab
ungeheuer viel Solidarität. Westdeutsche machten sich im Osten
und für den Osten stark, mit ihrem Wissen, ihrem Unternehmergeist
und ihrer politischen Erfahrung. Aber die Ostdeutschen waren es, die
den allergrössten Teil des Umbruchs geschultert haben, damit unser
Land wieder zusammenfand. Sie mussten ihr Leben gewissermassen von Neuem
beginnen, ihren Alltag neu organisieren, Chancen nutzen. Sie haben es
getan. Mit einer unglaublichen Bereitschaft zur Veränderung. Das
ist bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden.

Viele konnten ihre Hoffnungen endlich verwirklichen - reisen, wohin sie
wollten, das studieren und lesen, was sie wollten, diskutieren, was und
mit wem sie wollten, sich frei für einen Beruf entscheiden oder
sich mit ihren Ideen selbstständig machen. Andere haben jahrelang
um einen persönlichen Neuanfang gerungen. Manche bis heute.

Gewiss ist auch Erhaltenswertes verloren gegangen. Aber unendlich
Wertvolles wurde gewonnen: die Erfahrung der Menschen, dass sie mit
ihrem Mut zur Veränderung ihr eigenes Leben in Freiheit gestalten
konnten. Damit haben sie unserer deutschen Geschichte ein wichtiges
Kapitel hinzugefügt. Damit haben sie aus ganz Deutschland ein anderes
Deutschland gemacht. Damit haben sie vorgelebt, wie Umbrüche zu
meistern sind, für das persönliche Glück wie für
unser aller Zusammenhalt.

Damit kommen wir zur zweiten Antwort auf unsere Frage: "Deutschland, einig
Vaterland"? Was heisst das heute? 20 Jahre nach der Einheit stehen wir
vor der grossen Aufgabe, neuen Mut zur Veränderung zu finden, neuen
Zusammenhalt zu ermöglichen in einer sich rasant verändernden
Welt. Denn in dieser Welt ist das Versprechen alter Gewissheiten
natürlich populär, aber häufig trügerisch.

Unser Land ist offener geworden, der Welt zugewandter, vielfältiger
- und unterschiedlicher. Alltag und Lebensentwürfe haben sich
gewandelt.  Die Gründe kennen Sie alle: weltweiter Wettbewerb,
globale Handelswege, neue Technologien, grenzenlose Kommunikation,
Zuzug von Einwanderern, demographischer Wandel und - ja, auch das, neue
Bedrohungen von aussen.  Die Lebenswelten in unserem Land driften eher
auseinander: die von Alten und Jungen; von Spitzenverdienern und denen,
die vom Existenzminimum leben; von Menschen mit und ohne sicherem
Arbeitsverhältnis; von Volk und Volksvertretern; von Menschen
unterschiedlicher Kulturen und Glaubensbekenntnisse.

Manche Unterschiede lösen Ängste aus. Leugnen dürfen
wir sie nicht.  Trotzdem kann gar nicht oft genug gesagt werden: Ein
freiheitliches Land wie unseres - es lebt von Vielfalt, es lebt von
unterschiedlichen Lebensentwürfen, es lebt von Aufgeschlossenheit
für neue Ideen. Sonst kann es nicht bestehen. Zu viel Gleichheit
erstickt die eigene Anstrengung und ist am Ende nur um den Preis der
Unfreiheit zu haben.  Unser Land muss Verschiedenheit aushalten. Es
muss sie sogar wollen.  Aber zu grosse Unterschiede gefährden den
Zusammenhalt.

Vielfalt schätzen, Risse in unserer Gesellschaft schliessen -
das bewahrt vor Illusionen, das schafft echten Zusammenhalt. Das ist
die Aufgabe der "Deutschen Einheit" heute.

1989 haben die Ostdeutschen gerufen: "Wir sind das Volk, wir sind ein
Volk!" Das rief Nationalgefühl wach, das lange verschüttet war -
aus nachvollziehbaren historischen Gründen. Inzwischen ist in ganz
Deutschland ein neues Selbstbewusstsein gewachsen, ein unverkrampfter
Patriotismus, ein offenes Bekenntnis zu unserem Land, das um seine grosse
Verantwortung für die Vergangenheit weiss und so Zukunft gestaltet.
Dieses - im Sinne des Wortes - Selbst-Bewusstsein tut uns gut. Es tut
auch unserem Verhältnis zu anderen gut: Denn wer sein Land mag und
achtet, kann besser auf andere zugehen.

"Wir sind ein Volk!" Dieser Ruf der Einheit muss heute eine Einladung
sein an alle, die hier leben. Eine Einladung, die nicht gegründet
ist auf Beliebigkeit, sondern auf Werten, die unser Land stark gemacht
haben. Mit einem so verstandenen "wir" wird Zusammenhalt gelingen -
zwischen denen, die erst seit kurzem hier leben, und denen, die schon
so lange einheimisch sind, dass sie vergessen haben, dass vielleicht
auch ihre Vorfahren von auswärts kamen.

Wenn mir deutsche Musliminnen und Muslime schreiben: "Sie sind
unser Präsident" - dann antworte ich aus vollem Herzen: Ja,
natürlich bin ich Ihr Präsident! Und zwar mit der Leidenschaft
und Überzeugung, mit der ich der Präsident aller Menschen bin,
die hier in Deutschland leben.

Ich habe mich gefreut über den offenen Brief einer Gruppe von
Schülerinnen und Schülern mit familiären Wurzeln in 70
verschiedenen Ländern. Sie alle sind Stipendiaten einer Stiftung,
die engagierte Jugendliche in Deutschland unterstützt. Sie schreiben:
"Für uns spielt keine Rolle, woher einer kommt, sondern vielmehr,
wohin einer will. Wir glauben daran, dass wir gemeinsam unseren Weg
finden werden. Wir wollen hier leben, denn wir sind Deutschland."

Natürlich spielt es eine Rolle, woher einer kommt. Es wäre
schade, wenn das nicht so wäre. Aber die entscheidende Botschaft
dieses Appells lautet: Wir sind Deutschland!

Wir sind Deutschland. Ja: Wir sind ein Volk. Weil diese Menschen mit
ausländischen Wurzeln mir wichtig sind, will ich nicht, dass sie
verletzt werden in durchaus notwendigen Debatten. Legendenbildungen,
die Zementierung von Vorurteilen und Ausgrenzungen dürfen wir nicht
zulassen. Das ist in unserem eigenen nationalen Interesse.

Denn die Zukunft, davon bin ich felsenfest überzeugt, gehört den
Nationen, die offen sind für kulturelle Vielfalt, für neue Ideen
und für die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem. Deutschland
- mit seinen Verbindungen in alle Welt - muss offen sein gegenüber
denen, die aus allen Teilen der Welt zu uns kommen. Deutschland braucht
sie! Im Wettbewerb um kluge Köpfe müssen wir die Besten anziehen
und anziehend sein, damit die Besten bleiben. Meine eindringliche Bitte an
alle lautet: Lassen wir uns nicht in eine falsche Konfrontation treiben.
Johannes Rau hat bereits vor zehn Jahren sehr klug und nachdenklich an
uns alle appelliert, "ohne Angst und ohne Träumereien" gemeinsam
in Deutschland zu leben.

Wir haben doch längst Abschied genommen von drei
Lebenslügen. Wir haben erkannt, dass Gastarbeiter nicht
nur vorübergehend kamen, sondern dauerhaft blieben. Wir
haben erkannt, dass Einwanderung stattgefunden hat, auch wenn wir
uns lange nicht als Einwanderungsland definiert und nach unseren
Interessen Zuwanderung gesteuert haben. Und wir haben auch erkannt,
dass multikulturelle Illusionen die Herausforderungen und Probleme
regelmässig unterschätzt haben: das Verharren in Staatshilfe,
die Kriminalitätsraten und das Machogehabe, die Bildungs- und
Leistungsverweigerung. Ich habe die vielen hundert Briefe und E-Mails
gelesen, die mich zu diesem Thema erreicht haben. Mich beschäftigen
die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger sehr,
wie auch die Politik diese erkennbar und zu Recht ernst nimmt.

Und dennoch: Wir sind weiter, als es die derzeitige Debatte vermuten
lässt. Es ist längst Konsens, dass man Deutsch lernen muss,
wenn man hier lebt. Es ist Konsens, dass in Deutschland deutsches Recht
und Gesetz zu gelten hat. Für alle - wir sind ein Volk.

Es gibt Hunderttausende, die sich täglich für bessere
Integration einsetzen. Viele - zum Beispiel als Integrationslotsen -
freiwillig, uneigennützig und ehrenamtlich. Unsere Kommunen und die
Länder leisten Beträchtliches, wenn sich Politik und Bürger
zusammentun. Alle sollen gemeinsam das Netz weben, das unsere Gesellschaft
in aller Vielfalt und trotz aller Spannungen zusammenhält.

Auch wenn wir weiter sind, als es die derzeitige Debatte vermuten
lässt, sind wir ganz offenkundig nicht weit genug. Ja, wir haben
Nachholbedarf, ich nenne als Beispiele: Integrations- und Sprachkurse
für die ganze Familie, Unterrichtsangebote in Muttersprachen,
islamischen Religionsunterricht von hier ausgebildeten Lehrern und
selbstverständlich in deutscher Sprache. Und ja, wir brauchen auch
viel mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten -
etwa bei Schulschwänzern. Das gilt übrigens für alle,
die in unserem Land leben.

Zu allererst brauchen wir aber eine klare Haltung. Ein Verständnis
von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine
Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt
ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das
Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere
christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen
auch zu Deutschland. Vor fast 200 Jahren hat es Johann Wolfgang von
Goethe in seinem West-östlichen Divan zum Ausdruck gebracht:
"Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und
Okzident sind nicht mehr zu trennen."

Wie haben es die Schüler gesagt? Wichtig ist, wohin einer will. Sie
glauben daran, dass wir einen gemeinsamen Weg finden. Der gemeinsame
Weg braucht dann aber auch Einigkeit über das gemeinsame Ziel.

Jetzt komme ich zur dritten Antwort auf unsere Ausgangsfrage.
"Deutschland, einig Vaterland", das heisst, unsere Verfassung und die in
ihr festgeschriebenen Werte zu achten und zu schützen. Zu allererst
die Würde eines jeden Menschen, aber auch die Meinungsfreiheit,
die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann
und Frau. Sich an unsere gemeinsamen Regeln zu halten und unsere Art
zu leben, zu akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine
Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr aller rechnen -
das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder
linke Extremisten.

Wir erwarten völlig zu Recht, dass jeder sich nach
seinen Fähigkeiten einbringt in unser Gemeinwesen. Wir
verschliessen nicht die Augen vor denjenigen, die unseren Gemeinsinn
missbrauchen. "Unser Sozialstaat ist kein Selbstbedienungsladen ohne
Gegenleistungsverpflichtung", so schlicht und so richtig hat es die
Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ausgedrückt. Und weiter
schreibt sie in ihrem Buch: "Wenn die Menschen staatlich alimentiert
werden, darf die Gemeinschaft erwarten, dass die Kinder wenigstens in
die Schule geschickt werden, damit sie einen anderen Weg einschlagen
und in ihrem späteren Leben auf eigenen Beinen stehen."

Wir achten jeden, der etwas beiträgt zu unserem Land und seiner
Kultur.  Es gibt die Ärztin, den Deutschlehrer, den Taxifahrer, die
Fernsehmoderatorin, den Gemüsehändler, den Fussballspieler,
den Filmemacher, die Ministerin und viele weitere Beispiele gelungener
Integration. Auch über die freuen wir uns zu selten.

Wir können stolz sein auf unsere kulturellen, wissenschaftlichen und
wirtschaftlichen Leistungen. Vor allem können wir stolz sein auf das
soziale Klima in unserem Land, auf Toleranz, Kompromissfähigkeit und
Solidarität. Das hat uns übrigens auch in der Wirtschaftskrise
geholfen.  Gewerkschafter, Arbeitgeber, Beschäftigte - alle haben
gezeigt: Die Kraft zum Ausgleich, zum Verhandeln, zu einfallsreichen
Lösungen, die Kraft zum Zusammenhalt, die Kraft zum Konsens -
das ist Deutschland!

Neuer Zusammenhalt in der Gesellschaft ist nur möglich, wenn sich
kein Stärkerer entzieht und kein Schwächerer ausgegrenzt
wird. Wenn jeder in Verantwortung genommen wird und jeder verantwortlich
sein kann.

Wer lange vergeblich nach Arbeit sucht, sich von einem unsicheren
Job zum nächsten hangeln muss, wer das Gefühl hat, nicht
gebraucht zu werden und keine Perspektive erhält, der wird sich,
verständlicherweise, enttäuscht von dieser Gesellschaft
abwenden.

Wer sich zur Elite zählt, zu den Verantwortungs- und
Entscheidungsträgern und sich seinerseits in eine eigene abgehobene
Parallelwelt verabschiedet, auch der wendet sich von dieser Gesellschaft
ab. Leider haben wir genau dieses in der Finanzkrise erlebt. Niemand
sollte vergessen, was er auch dem Zufall seiner Geburt und unserem
Land zu verdanken hat - und er sollte es als seine Pflicht begreifen,
unserem Gemeinwesen etwas zurückzugeben.

Die immer zahlreicheren Älteren bringen schon viel Gutes ein. Viele
wollen über die Altersgrenze hinaus in ihrem Beruf arbeiten, aber
mit etwas weniger Stunden. Das müssen wir möglich machen. Andere
engagieren sich ehrenamtlich, bringen ihr Wissen und ihre Erfahrung ein -
warum nicht auch in einem freiwilligen sozialen Jahr für Ältere?

Wie sieht die Gesellschaft aus, in der sich niemand überflüssig
fühlt und die niemanden überflüssig macht? Wie können
die integriert werden, die schon seit vielen Jahren keine Arbeit mehr
haben? Wie können die teilhaben, denen wegen einer Behinderung bis
heute nicht die gleichen Möglichkeiten offen stehen wie anderen?

Die erfolgreichste Art Zusammenhalt zu stärken, ist anderen zu
vertrauen und ihnen etwas zuzutrauen. Menschen können so vieles
erreichen, wenn jemand an sie glaubt und sie unterstützt. Das habe
auch ich immer wieder erlebt. In der Kinderkrippe unseres Sohnes, in der
behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam betreut werden, ist ein
kleiner Junge.  Seinen Eltern wurde wegen dessen Behinderung vorhergesagt,
er würde nur krabbeln lernen können. Jetzt, mit drei Jahren,
kann er laufen. Durch neuartige, früh- und heilpädagogische
Förderung, weil die Eltern und Erzieher ihn unterstützt und
ihm etwas zugetraut haben und er von anderen Kindern lernen konnte.

Wir müssen bei den Kindern anfangen. Wie viele einst an die Einheit
geglaubt haben, obwohl sie in weiter Ferne lag, müssen wir uns Ziele
stecken, die weit entfernt scheinen, aber erreichbar sind. Kein Kind
darf mehr ohne gute Deutschkenntnisse in die Schule geschickt werden.
Kein Kind soll die Schule ohne Abschluss verlassen. Kein Kind soll ohne
Berufschance bleiben. Es sind unsere Kinder und Jugendlichen, um die
es hier geht. Sie sind das Wertvollste, was wir haben, auch vor dem
Hintergrund des demographischen Wandels unserer Gesellschaft.

Manches kostet keinen Cent, nur Zeit und Zuwendung: mit einem Kind -
nicht nur dem eigenen Kind - etwas zu unternehmen, ihm etwas vorzulesen,
ihm zuzuhören. Wir brauchen Eltern, die ihren Kindern sagen: strengt
Euch an. Wir brauchen Lob und Unterstützung für Lehrerinnen und
Lehrer, die sagen: wir geben nicht auf in unserem Bemühen, jedes
einzelne Kind zu fördern und auf den Weg zu bringen. Wir brauchen
mehr Unternehmerinnen und Unternehmer, die sagen: wir geben den vielen,
die es verdient haben, eine Chance - egal ob er oder sie nun Schulze
oder Yilmaz heisst, Kinder hat oder nicht, als zu jung oder zu alt gilt.

Viele, die trotz Widrigkeiten in eine gute Zukunft gehen konnten,
verdanken das Menschen, die ihnen in entscheidenden Momenten geholfen
haben - einfach so. Ich selbst habe Lehrer und Nachbarn gehabt, die mir
geholfen haben, als meine Mutter erkrankte - einfach so. Der Vater der
SOS-Kinderdörfer, Hermann Gmeiner, hat es so ausgedrückt: "Alles
Grosse in unserer Welt entsteht nur, weil jemand mehr tut, als er muss".

"Wir sind das Volk!": Mit diesen vier Worten haben Menschen, die
zusammengehalten haben, ein ganzes Regime hinweggefegt. Jeder, der
dies gerufen hat, hat das Gefühl der Ohnmacht überwunden,
hat sich für zuständig erklärt und Verantwortung
übernommen. Unsere Kinder sollten unsere Geschichte und den
unschätzbaren Wert der Freiheit, der Verantwortung, der Gerechtigkeit
in diesem Sinne verstehen.

Sie sollen erfahren, wie wichtig es ist, die Aufgaben der Zukunft
gemeinsam mit anderen anzupacken. Ängste vor Fremdem, Neuem und
Konkurrenz nicht abtun, aber dann umso beherzter und mutiger die Zukunft
angehen, denn Angst, das wissen wir alle, ist ein denkbar schlechter
Ratgeber.

Mit der Europäischen Union haben wir ein solches wunderbares
Modell geschaffen, wie Kooperation gelingen kann. Ich freue mich,
dass so viele Repräsentanten aus Europa hier sind. "In Vielfalt
geeint" ist zu Recht das europäische Motto, nach dem wir eine
beispiellose Integration von Nationalstaaten geschaffen haben. Es
zeigt der ganzen Welt: Wir Europäer haben aus der leidvollen
Geschichte gelernt! Die drängenden globalen Zukunftsfragen wie
Klimaschutz, Armutsbekämpfung, Terrorabwehr und Neuordnung der
Finanzmärkte werden wir als Europäer gemeinsam angehen
müssen. Die Welt verändert sich. Aufstrebende Länder
nehmen die ihnen zustehenden Plätze ein, ob Indonesien, Brasilien,
China, Russland oder Indien. Wir Europäer müssen jetzt an einer
Weltordnung mitarbeiten, in der wir uns auch dann noch wohlfühlen,
wenn unser relatives Gewicht abnimmt. Es gibt viel Kritik an Europa in
diesen Tagen. Aber ich werde nicht aufhören, mich für Europa
einzusetzen, weil Europa unsere Zukunft ist und wir Deutsche Motor in
Europa bleiben sollten.

Für unser Land hat sich am 3. Oktober 1990, exakt heute vor 20
Jahren, eine Hoffnung erfüllt. Gleichzeitig haben wir an diesem
3. Oktober eine einmalige Chance zum Neuanfang bekommen. Wir haben diese
Chance überzeugend genutzt. Lassen Sie uns - nicht nur heute -
zusammen stolz sein auf das Erreichte. Aber wir sind nicht fertig, ein
Staat, ein Volk ist nie fertig. Es geht darum, die Freiheit zu bewahren,
die Einheit immer wieder zu suchen und zu schaffen. Es geht darum,
dieses Land zu einem Zuhause zu machen - für alle; sich einzusetzen
für gerechte Verhältnisse - für alle. Dieses Land ist unser
aller Land, ob aus Ost oder West, Nord oder Süd und egal mit welcher
Herkunft. Hier leben wir, hier leben wir gern, hier leben wir in Frieden
zusammen - hier stehen wir ein für Einigkeit und Recht und Freiheit.

Wir gehen mit Mut und Zuversicht nach vorne. Die vergangenen 20
Jahre haben gezeigt, was wir gemeinsam schaffen konnten und was wir
dementsprechend auch in der Zukunft werden schaffen können. Wir
sind - im doppelten Sinne des Wortes - zusammengewachsen und zusammen
gewachsen.

Gott schütze Deutschland.