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www.rhetorik.ch aktuell: (29. Okt, 2009)

Ende des Auflagenschwunds von US Zeitungen?

Rhetorik.ch Artikel zum Thema:


Veränderung der Auflage unter den 25 auflagenstärksten Zeitungen der USA nach "Audit Bureau of Circulations" vom 26. Oktober 2009: Quelle:

Name Auflage Apr-Sep 2009 Vergleich mit Apr-Sep 2008
Wall Street J. 2'024'269 +0.61%
USA Today 1'900'116 -17.15%
New York Times 927'851 -7.28%
Los Angeles Times 657'467 -11.05%
Washington Post 582'844 -6.40%
Daily News (NY) 544'167 -13.98%
New York Post 508'042 -18.77%
Chicago Tribune 465'892 -9.72%
Houston Chronicle 384'419 -14.24%
Philadelphia Inquirer 361'480 ?
Newsday 357'124 -5.40%
Denver Post 340'949 ?
Arizona Republic 316'874 -12.30%
Star Tribune 304'543 -5.53%
Chicago Sun-Times 275'641 -11.98%
Plain Dealer 271'180 -11.24%
Detroit Free Press269'729 -9.56%
Boston Globe 264'105 -18.48%
Dallas Morning News 263'810 -22.16%
Seattle Times263'588 ?
San Francisco Chronicle 251'782 -25.82%
Oregonian 249'163 -12.06%
Star-Ledger 246'006 -22.22%
San Diego Union-Tribune 242'705 -10.05%
St. Petersburg Times 240'147 -10.70%


Die Zahlen links zeigen, dass es den US-Zeitungen nicht gut geht. Doch nicht alle sehen schwarz. Nicholas Lemann von der Columbia University meint aber, dass die US Zeitungen haben das Schlimmste überstanden haben:
  • Ein Hauptproblem ist, ein Finanzierung zu finden. Entweder durch einen Bezahlmechanismus auf dem Netz, der brauchbar ist, oder dann duch staatliche Unterstützung.
  • Das Publikum muss zwischen staatlichen Medien und öffentlichen Medien unterscheiden. Nur so kommt Akzeptanz zu einer staatlichen Mithilfe.
  • Eine staatliche Subvention von gutem Journalismus ist nicht einfach, weil die Gefahr besteht, dass die Medien unter die Kontrolle des Staates gelangen.
  • Das übliche Dilemma von quotengetribenem Journalismus: In einem marktorientiertes System werden Geschichten wie der "Ballon-Boy" unweigerlich an die Spitze kommen.
Ein Wasington post Artikel vom 27 bestaetigt dies. Nur noch 30 Millionen Amerikaner abbonieren eine Zeitung. Es waren noch 40 millionen im Jahre 1940. Kleineren Lokalzeitungen geht es besser.

Nicholas Lemann interviewed von Marc Pitzke im Spiegel: Umbruch der Medienwelt:

Spiegel Mr. Lemann, Sie begrüssen die neuen Studenten Ihrer Fakultät jedes Jahr mit einer aufmunternden Rede zur Zukunft ihres Berufs. Was werden Sie ihnen 2010 sagen? Dass sie sich einen anderen Job suchen sollen? Lemann: Ich versichere ihnen, dass der Journalismus nicht verschwinden wird, sich aber gerade auf ziemlich fundamentale Weise neu erfindet. Aus der Sicht eines Studenten, der ein Vollzeitreporter werden will und einen Einstiegsjob sucht, stehen die Dinge im Augenblick gar nicht mal so schlecht.
Spiegel Die Auflagenverluste der US-Zeitungen und die drastischen Stellenkürzungen selbst bei einer Institution wie der "New York Times" sprechen aber eine andere Sprache. Lemann: Nach ein paar Monaten der Eiszeit haben wir wieder begonnen, Leute auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Im Internet gibt es viele journalistische Startups, und viele unserer jüngsten Absolventen machen spannende Dinge auf der ganzen Welt. Zum Glück gibt es immer noch viele News-Organisationen. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass man die Schule verlässt und einen Job bekommt, in dem man bleibt, bis man sich zur Ruhe setzt.
Spiegel Ist die Ära der einflussreichen Zeitungen endgültig vorbei? Lemann: Tageszeitungen in den USA werden wahrscheinlich nicht völlig verschwinden. Aber sie sind fast alle geschrumpft. Das heisst aber nicht, dass sie nicht weiter die vorherrschenden Nachrichtenanbieter an ihren Standorten sein werden. Die Zeitungen haben das Schlimmste überstanden.
Spiegel Fragt sich, was für eine Art Journalismus dabei übrig bleibt. Ihre Schule hat gerade einen weitreichenden Bericht dazu veröffentlicht: "Der Wiederaufbau des amerikanischen Journalismus". Darin fürchten die Autoren um den "accountability journalism" - Journalismus als Dienst an der Öffentlichkeit, der Machthaber zur Verantwortung zieht. Sind Journalisten überhaupt noch die Vierte Gewalt? Lemann: "Accountability journalism" ist eine teure Sache. Am schlimmsten ist in dieser Hinsicht nicht so sehr der Abstieg der Zeitungen, sondern das bisherige Versagen fast aller Beteiligten, einen Weg zu finden, "accountability journalism" online zu etablieren. Das Netz ist eine wunderbare Plattform, aber es finanziert sich nicht von selbst.
Spiegel In Ihrem Bericht gibt es einen gewagten Vorschlag: die Gründung eines nationalen "Fund for Local News", eines Fonds für Lokalnachrichten aus Geldern, die die Kommunikationsbehörde FCC bereits kassiert, zum Beispiel von Telekom- und Telefonkunden. Das löste bei vielen Journalisten sofort Sorgen um eine Kontrolle durch die Regierung aus. Lemann: Wir Journalisten habe einen sehr starken Instinkt, uns vom öffentlichen Sektor fernzuhalten, mit Ausnahme von Schutzgesetzen. Auf die bestehen wir. Wenn man die Leute aber fragt, ob sie NPR (ein öffentlich finanzierter Radiosender in den USA, Anm. d. Red.) oder das öffentliche Fernsehen oder in Grossbritannien die BBC abschaffen wollen, ist die Antwort: Tja, vielleicht doch nicht.
Spiegel Wir haben in den USA also schon Formen des regierungsgesponserten Journalismus? Lemann: Es ist doch bemerkenswert, dass es zum Beispiel an Universitäten hier viele Projekte gibt, die sich mit der Suche nach der Wahrheit befassen. Sie werden von der Regierung gesponsert und sind ziemlich erfolgreich. Natürlich birgt jede finanzielle Hilfsquelle das Potential der Korruption. Deshalb muss man Schutzvorrichtungen installieren. Seit Jahren funktioniert das ja auch mit Inserenten. Wir haben uns daran gewöhnt.
Spiegel Wie würde das denn mit Regierungsgeldern für Medien funktionieren? Lemann: Der Bericht schlägt keine Regierungssubventionen vor und auch keine Regierungskontrolle. Er empfiehlt ein automatisches Gebührensystem, das die FCC-Gebühren an Gremien in den Bundesstaaten weiterleitet, die dann substanzielle Finanzverpflichtungen zur Nachrichtenermittlung übernehmen. Da sind viele Schutzvorkehrungen mit eingebaut. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen staatlichen Medien und öffentlichen Medien, wie man in vielen anderen Ländern sieht, auch in Deutschland. Amerikanische Journalisten ziehen gerne den voreiligen Schluss, dass das dasselbe sei und dass jedes Mal, wenn man Staatshilfen erhält, die "Prawda" herauskommt.
Spiegel Der Bericht schlägt ausserdem die Umwandlung von Zeitungen in steuerlich gemeinnützige Organe vor, ausserdem verstärkte finanzielle Unterstützung durch philanthropische Einrichtungen und mehr Zusammenarbeit mit öffentlichem Rundfunk und Universitäten. Das klingt schön, aber ist es plausibel? Lemann: Einiges wird bereits umgesetzt. Alle diese Vorschläge, inklusive des Nachrichtenfonds, sind in jedem Fall durchführbar.
Spiegel Der Report malt sich auch einen interaktiveren Ansatz zwischen traditionellen Print-Reportern, Web-Autoren und Bloggern und selbst Lesern aus. Dagegen sträuben sich aber viele Journalisten. Lemann: Diese Zusammenarbeit findet doch schon statt. Wir haben zueinander gefunden. Die Web-Leute behaupten nicht länger, dass es, selbst wenn alle Journalisten morgen verschwinden würden, noch genau so viele Nachrichten gäbe wie bisher.
Spiegel Sensationelle Lügen-Storys wie kürzlich die Aufregung über den erschwindelten Flug eines Sechsjährigen in einem Ballon stärken das Image etablierter Journalisten aber kaum. Lemann: Diese Sache hat mich frustriert. Wenn man ein rein marktorientiertes System hat, dann werden Geschichten wie dieser "Ballon-Boy" unweigerlich an die Spitze kommen.
Spiegel Der "Ballon-Boy" ist also die Zukunft? Lemann: Journalisten sollten immer versuchen, ihre Arbeit für ein breites Publikum fesselnd zu gestalten. Aber wenn der Markttest dabei die einzige Massgabe ist, schlägt das Pendel in eine bestimmte Richtung aus. Das andere Extrem wären langweilige Nachrichten. Journalismus muss in der dynamischen Spannung dazwischen existieren.

Nachtrag vom 30. Oktober, 2009:

Ein Washington Post Artikel vom 30. Oktober meint, dass zum ersten mal in der Geschichte der USA die minimalen Mittel für Nachrichten in Gefahr seien. Im "Informationszeitalter" sei es möglich geworden, dass ungeprüfter Spin und Propaganda, und die best finanzierte Sprache gewinnt und Zynismus und Unwissenheit zur Pandemie wird. Etwa 1000 Journalisten Jobs sollen in den USA pro Monat verloren gehen. Die Autoren des Artikels plädieren für einen vom Staat unterstützten Journalismus ähnlich wie in einigen Europäischen Ländern. Das Problem ist, dass ein "vom Staat subventionierter Journalismus" leicht mit "Staatsjournalismus" verwechselt wird. Auch in der Schweiz, wo Radio und Fernsehen vom Staat subventionierte Medien sind, haben die Printmedien bisher keine staatlichen Finanzierungshilfe.



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