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www.rhetorik.ch aktuell: (22. Jun, 2008)

Warum überleben Politiker Verfehlungen?

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Die NZZ- am Sonntag ging der Frage nach, weshalb gewisse Politiker trotz Verfehlungen gewählt werden und andere daran straucheln. Wie viele Beispiele in rhetorik.ch zeigen, kann ein Mea Culpa zur richtigen Zeit hilfreich sein. Auch der Sympathiebonus, das Charisma einer Persönlichkeit entscheidet darüber, ob die Bevölkerung Nachsicht walten lässt. Wenn jedoch die Verfehlung im Zusammenhang mit dem Beruf in Verbindung gebracht wird, hilft auch dies wenig.

Interessant ist das Phänomen Verzeihen. Bei Verfehlungen, für die wir ein gewisses Verständnis haben, ist die Öffentlichkeit nachsichtiger. Doch gibt es auch Tabus, wie Drogenhandel, Kindsmisshandlungen usw. Gnade für reuige Sünder gibt es im Allgemeinen nicht. Auch der Mitleideffekt kann beim Verzeihen eine gewisse Rolle spielen.

Quelle: NZZ am Sonntag




22. Juni 2008,

NZZ am Sonntag Politiker im Beichtstuhl

Mit der Nachsicht der Öffentlichkeit könnte es bald vorbei sein Trinkt gelegentlich zu viel, aber will sich bessern: Valérie Garbani Bild anklicken für Vollansicht Trinkt gelegentlich zu viel, aber will sich bessern: Trunkenheit, Raserei, Bordellbesuch. Wer als Politiker private Verfehlungen und Schwächen gesteht, erfährt in der Schweiz meistens Gnade vor dem Volk. Privatleben und Politik werden scharf getrennt - noch. Denn die zunehmende Öffnung des Privaten in den Medien könnte dazu führen, dass sich Politiker auch an ihrem Privatleben messen lassen müssen. Woanders wäre es ein Rücktrittsgrund. Valérie Garbani, Mitglied der Stadtregierung von Neuenburg und dort bekannt für Festfreude und exzessiven Alkoholkonsum, wurde im April von der Polizei abgeführt. Sie machte spätnachts mit 1,94 Promille Alkohol im Blut in der Wohnung eines Bekannten Radau und deckte die einrückenden Polizisten mit wüsten Beschimpfungen ein. Zwei Wochen später musste Garbani zur Wiederwahl in die Gemeindeexekutive antreten. Sie wurde komfortabel im Amt bestätigt. Zwischen der Polizeiaktion und dem Wahlerfolg lag ein Kniefall. Die 41-jährige SP-Politikerin trat als Reumütige vor die Medien, gestand, dass sie zu viel trinke und Antidepressiva einnehme, und versprach Besserung. Sie befinde sich in einer schwierigen persönlichen Situation, weil sie von ihrem Lebenspartner geschlagen werde. Am vergangenen Wochenende kam es offenbar erneut dazu. Die Polizei musste samstags um acht Uhr früh ausrücken, weil die Gemeinderätin aus ihrem Wohnungsfenster um Hilfe schrie. Garbanis öffentliches Leiden und Beichten bewegt die Westschweiz. In den letzten Tagen liess die Sozialdemokratin über die Medien verlauten, sie leide an einer psychischen Störung, werde diese aber in den Griff bekommen. Ein Rücktritt ist für die Politikerin kein Thema. Die Strategie lautet: Öffentliche Entschuldigung, Asche auf mein Haupt, ich werde mich bessern.
Keine Schadenfreude
An diese Strategie hat sich auch Filippo Lombardi gehalten. Der Tessiner CVP-Ständerat wurde in den letzten Jahren immer wieder mit überhöhter Geschwindigkeit oder überhöhtem Alkoholpegel im Auto erwischt. Vor seiner Wählerschaft entschuldigte er sich stets wortreich und gab schliesslich sogar freiwillig seinen Führerschein ab. Die Tessiner wählten ihn jeweils wieder. Auch der Solothurner FDP-Ständerat Rolf Büttiker trat die Flucht nach vorne an, als die ehemalige Berner Prostituierte Rita Dolder zwei Monate vor den Wahlen 1999 in einem Buch über ihre Kunden aus dem Bundeshaus auspackte. Büttiker war im Buch identifizierbar als Freier mit speziellen Vorlieben. Er gab seine Prostituierten-Besuche - als Junggeselle - sofort zu und hielt an seiner erneuten Kandidatur fest. Büttiker wurde seither dreimal wiedergewählt und amtierte vorletztes Jahr als Ständeratspräsident. In anderen Ländern bedeuten solche öffentlich gewordene private Eskapaden oft das Ende einer politischen Laufbahn. Allein wegen Sexaffären mussten in den puritanischen USA in den letzten Jahren ein halbes Dutzend Abgeordnete oder Gouverneure abtreten. In der Schweiz aber scheint ein angekratzter Ruf kein Hindernis für eine Wiederwahl zu sein. Wählerinnen und Wähler sind gnädig, wenn Politiker mit privaten - nicht politischen - Fehltritten in die Schlagzeilen geraten. Wer Fehler aufrichtig eingestehe, werde grosszügig behandelt, sagt der Kommunikationsberater und ehemalige "Arena"-Moderator Patrick Rohr. Für ihn hat diese Gnade mit dem politischen System zu tun. In der Schweiz seien die Politiker keine abgehobene Kaste, über deren Fehltritte man sich freue oder gegen die man sich auflehnen wolle. Auch die Politologin Regula Stämpfli stellt besondere Nachsicht mit reuigen Politikern fest. Im Gegensatz zu den USA oder zu Deutschland hätten die Schweizer ein stärkeres Empfinden für die Trennung von Öffentlichkeit und Privatem. Dies zeige sich etwa im Festhalten am Bankgeheimnis, wo es zuletzt um den Schutz der Privatsphäre gehe. Dieses Grundgefühl komme auch Politikerinnen und Politikern zugute, sagt Stämpfli. Je nach Fall kann es sogar zu einer Solidarisierung mit Medienopfern kommen. Als zum Beispiel einige Medien 2001 die St. Galler CVP-Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatz wegen der Rotlicht-Ausflüge ihres Ehemanns in Sippenhaftung nehmen wollten, kam es zu einer Gegenreaktion. Die Medien gerieten in die Kritik. Ähnliche Anteilnahme erfuhr auch Valérie Garbani nach ihrem Geständnis. Der Hinweis auf die häusliche Gewalt machte sie zum Opfer. Auf den Leserbriefseiten kam es zu Solidaritätsbekundungen mit dem Tenor: Das kann jedem passieren. Politische Berater empfehlen daher, bei privaten Verfehlungen sofort die Wahrheit auf den Tisch zu legen. Ein Schuldeingeständnis reduziert den Mediendruck und führt im Idealfall dazu, dass sich die öffentliche Meinung gegen die Medien wendet. Perfektion ist unheimlich Solche Reaktionen zeigen sich auch bei Politikern, die mit einer Krankheit an die Öffentlichkeit treten. Als der damalige FDP-Präsident Rolf Schweiger sein Amt 2004 wegen eines Burnouts niederlegte, löste er eine Diskussion über sein Leiden aus, geriet aber nie in Verdacht, seiner Aufgabe als Ständerat nicht gewachsen zu sein. Wer offensichtlich mit Schwächen kämpft, der ist glaubwürdiger als der makellose Politiker.
Öffentlich gewordene persönliche Schwierigkeiten können fürs Image durchaus positiv sein. Der Politiker mit Schwächen wird menschlicher und eignet sich besser als Identifikationsfigur. Perfektion sei suspekt und unheimlich, sagt der Kommunikationsberater Marcus Knill. Und die Politologin Stämpfli fragt: "Wer wählt schon gerne einen Supermann?" Wer offensichtlich mit Schwächen kämpfe, sei glaubwürdiger als der makellose Politiker. Vom ehemaligen CVP-Bundesrat Kurt Furgler heisst es etwa, der begnadete Redner habe absichtlich rhetorische Fehler in seine Reden eingestreut, um menschlicher zu wirken. Und die gescheiterte US-Präsidentschaftsanwärterin Hillary Clinton begann im Vorwahlkampf ab jenem Moment zu punkten, als sie - absichtlich oder nicht - an einer Wahlkampfveranstaltung mit den Tränen kämpfte und Emotionen zeigte.
Die schützende Trennung von Privatleben und politischem Amt ist allerdings in Gefahr. Dadurch, dass Politiker zunehmend freiwillig Privates in den Medien ausbreiten, um ihre Popularität zu steigern, verschieben sie diese Grenze. Der private Bereich wird zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Person. Diese laufe damit Gefahr, nicht mehr nur an ihrer politischen Arbeit, sondern auch an ihrem Privatleben gemessen zu werden, sagt Patrik Ettinger vom Forschungsbereich Öffentlichkeit-Gesellschaft der Universität Zürich.
Es gibt Tabus
In der Tat werden private Verfehlungen nicht immer verziehen. Zu schnelles Fahren und Trunkenheit am Steuer gelten mancherorts noch als Kavaliersdelikt, weil ein Grossteil der wählenden Bevölkerung auch schon solcherart gesündigt hat. Drogendelikte hingegen sind wenig vertrauensfördernd. Der grünliberale Zürcher Gemeinderat Peter Püntener trat zurück, nachdem er wegen Verdachts auf Drogenhandel verhaftet worden war. Und die politische Laufbahn des Walliser CVP-Grossrats Xavier Bagnoud neigt sich dem Ende zu, seitdem ein privater Film öffentlich ist, der den Politiker zeigt, wie er nackt weisses Pulver die Nase hochzieht. Abgestraft werden Politiker auch, wenn die private Verfehlung in irgendeiner Weise mit dem Amt zu tun hat. So wurde der Luzerner SVP-Regierungsrat Daniel Bühlmann letztes Jahr abgewählt, nachdem nebst anderen Fehltritten bekannt geworden war, dass der Finanzdirektor selbst in finanzielle Nöte geraten war. Bühlmann zahlte Rechnungen nicht und wurde betrieben. Für den Solothurner SP-Regierungsrat Roberto Zanetti bedeuteten Ungereimtheiten um Wahlspenden das Ende der politischen Karriere. Er wurde 2005 nicht wiedergewählt. Seine Parteikollegin, Ständerätin Anita Fetz, überstand dagegen dieselbe Affäre politisch und schaffte die Wiederwahl. Solche Situationen zeigen laut Politik-Berater Iwan Rickenbacher, dass die Gnade für reuige Sünder nicht generell gilt. Zwar könne man auf Goodwill zählen, wenn man sich für Fehler entschuldige und eine Wiedergutmachung anbiete. Aber wichtig seien auch politische Konstellationen bei Wahlen. Filippo Lombardi etwa sei auch gewählt worden, weil er als Bürgerlicher in einer Richtungswahl gegen einen linken Herausforderer antrat. Die Sozialdemokratin Valérie Garbani wiederum profitiert von der Stärke der SP in Neuenburg. Diese Stärke bietet allerdings keine lebenslange Garantie. Die Geduld mit fehlerhaften Politikern ist begrenzt. Im Fall von Garbani scheint das Mass allmählich voll zu sein. Ihre Partei teilte jedenfalls am Freitag mit, sie werde bei einer erneuten Verfehlung "die nötigen Konsequenzen ziehen".




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