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www.rhetorik.ch aktuell: (2. November, 2005)

Zur Selbstzerfleischung der SPD



Der Rücktritt Münteferings

Nach Gerhard Schröder verlor die SPD mit Franz Müntefering eine zweite Integrationsfigur.

Als sich die 35-jährige Andrea Nahles gegen den von Müntefering vorgeschlagenen Kandidaten Kajo Wasserhövel durchsetzen konnte, kam der Paukenschlag: in einer Pressekonferenz meinte Müntefering, dass er auf dem SPD-Parteitag nicht mehr als Parteivorsitzende zur Verfügung stehe.


Der Rücktritt kam verpackt in Kritik an seiner eigenen Partei: Er hoffe, "dass die SPD begreife, dass es nun auf Geschlossenheit ankomme" sagte er am Ende seines kurzen Statements.


Der Spiegel titelte:

"Die SPD meuchelt aus Versehen ihren Chef"


Kettenreaktion

Der Sieg von Nahles löste auch noch eine andere politische Kettenreaktion aus: auch CSU-Chef Edmund Stoiber überdachte seinen Wechsel nach Berlin. Die neue Bombe platzte dann auch wirklich: Edmund Stoiber will in Bayern bleiben und nicht mehr Minister in Berlin werden. Die Interpretation der Beobachter war, dass Stoiber fühlte, dass eine Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft und Arbeit ohne Müntefering nur Ärger bringen würde.


Der "Spiegel" fragte sich schon: "Platzt Merkels Koalition?" und kommentierte:

"Die Kettenreaktionen in der Politik ähneln denen der Physik: Ein Ereignis stösst weitere Ereignisse an, die immer schneller und unkontrollierter verlaufen."


Die Tatsache, dass "Müntefering als tragende Säule von seiner eigenen Partei herausgeschossen worden war" heisse für die CDU, dass "die SPD unberechenbarer und irrationaler geworden ist". "Müntefering sei ein Anker gewesen", in der Union herrsche "tiefe Verunsicherung": "Eine neue handlungsfähige Regierung gebe es nur mit einer handlungsfähigen SPD." "Die Union weiss nicht, wie sich die SPD entwickeln wird".




Karl-Rudolf Korte Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte meinte, Münteferings Rücktritt habe "grosse Nachteile für die CDU". Die Partei wisse nicht, "mit wem sie jetzt was verhandeln kann". Damit gebe es nach Münteferings Rückzug nicht nur macht- oder personalpolitische Problemkonstellationen, sondern vor allem auch inhaltliche Verwerfungen. Zu Stoiber meint Korte

"Herr Stoiber hat in den vergangenen Wochen so viele Winkelzüge gemacht, er wird ja machtpolitisch gar nicht mehr ernst genommen."


Mehr Reaktionen

Dass Franz Müntefering seiner Partei jetzt den Rücken kehrt, hätte sich kein Sozialdemokrat träumen lassen. Auch die Mitglieder des SPD-Vorstandes fielen aus den Wolken. "Wir wollten den Franz nicht stürzen". Am letzten Montagnachmittag schien ihnen zu dämmern, was sie angerichtet hatten:

  • Parteivorsitzender Rüdiger Fikentscher meinte, die Stimmung sei "Sehr gedrückt".
  • Ottmar Schriner meinte, man sei "Niedergeschlagen".
  • Fraktionsvize Joachim Poss wütete, er könne "die Naivität hochrangiger Sozialdemokraten nicht nachvollziehen".
  • Die Analysis des bayerische Landeschef Ludwig Stiegler: da hätten wohl einige bei ihrem Abstimmverhalten das Ende nicht mit bedacht.
  • Ein SPD Mitglied: Einige Leute haben nicht begriffen, dass wir nicht in der Juso sind
  • SPD Mitglied: Das war heute ein Triumph der Mittelmässigkeit.




Nach dem Eklat hörten wir Worte, wie:
  • Entsetzen
  • Erschütternd
  • Das war nicht absehbar
  • Damit rechnete wirklich niemand
  • Es ist ausserordentlich bedauerlich
  • Kommt es zu Neuwahlen im März?
  • Scheitern die Koalitonsverhandlungen?
  • Politisches Erdbeben
  • Politisches Blitzlicht
  • Selbstenthauptung der Partei
  • War es ein geplanter Putsch?
  • Das war eine gigantische Dummheit
  • Chaotische Situation
  • Irreparabler Schaden
  • Zweifel an Handlungsfähigkeit
Spiegel: "Eine Ohrfeige hatte man Müntefering verpassen wollen, einen Denkzettel für seinen autoritären Stil und seine zahlreichen Solonummern. Stattdessen beendeten die 38 anwesenden Vorstandsmitglieder ebenso ungewollt wie unvermittelt eine Ära. Nur wenige Wochen nach Schröders Abgang geht der SPD nun auch der zweite Übervater verloren - obendrein derjenige, der sie in die schwierige Übergangsperiode unter der Grossen Koalition führen sollte. Müntefering hatte vor der Abstimmung nicht offen mit seinem Rücktritt gedroht. Aber in seinen Redebeiträgen sei implizit doch deutlich geworden, dass er sein Schicksal mit der Abstimmung verknüpfe, berichteten Teilnehmer. Eindringlich habe er noch einmal für Wasserhövel geworben."


Wer wird Nachfolger?

Die SPD steht vor einer personalen Krise. Sie sucht einen neuen Chef. Selbst beim Rücktritt von Willy Brandt als Bundeskanzler war die Lage nicht so dramatisch. Damals konnte Helmut Schmidt das Amt übernehmen. Unter Münteferings Nachfolgerkandidaten befinden sich der Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, und von Brandenburg, Matthias Platzeck. Nach Spiegel wären die beiden wären derzeit eher "Konkursverwalter" als politische Leitfiguren.

Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Landesvorsitzender Till Backhaus forderte Nahles auf, auf eine Generalsekretärin Kandidatur beim Bundesparteitag zu verzichten.

Es gibt Gerüchte, Mütefering sei doch bereit, in einer Grossen Koalition Arbeitsminister und Vizekanzler zu werden. Auch Stoiber könnte könnte eine Kehrtwende machen. Die derzeitig Lage in der SPD Krise ist nicht nur für die Medien unü¼;bersichtlich!


Warum?

Das 23 zu 14 Votum gegen Müntefering provoziert Fragen:
  • War es die Angst bei Teilen der SPD, dass die Partei in einer grossen Koalition Profil verlieren und somit die Linksparteien zu stark würden?
  • Sollte der Parteichef eine Quittung bekommen? Für das passable Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl? Für die komfortable Vertretung der SPD mit acht Ministern in einer grossen Koalition? Für Münteferings Begabung, noch jede Niederlage in einen Sieg verwandeln zu können?
  • War es ein Ventil für die Wut über den Reformkurs? Mit der Ankündigung von Neuwahlen zwangen Schröder und Müntefering die Partei im Mai noch einmal zur Disziplin. Die SPD hatte sich gegen alle Prognosen in eine unerwartet gute Position gerettet, das Müntefering/Schröder Duo holte politisch raus, was überhaupt rauszuholen war.


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