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www.rhetorik.ch aktuell: (10. August, 2005)

Stoibers Eigentor

Nachdem der Innenminister des deutschen Bundeslandes Brandenburg, Jörg Schönbohm, wegen einer Bemerkung über Ostdeutsche ins Fettnäpfchen getreten war. (Nach dem Fund von neun Säuglingsleichen, deren Tötung oder die Schwangerschaft der Mutter weder Familienangehörige noch Nachbarn bemerkt haben wollen, hatte Schönbohm das SED-Regime und die "erzwungene Proletarisierung" zu DDR-Zeiten als eine Hauptursache für Werteverlust und Gewaltbereitschaft in Ostdeutschland bezeichnet), machte nun auch noch Edmund Stoiber an einer Wahlveranstaltung für die Union ein rhetorisches Eigentor. Er sagte:


"Ich akzeptiere nicht, dass erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. Es darf nicht sein, dass die Frustrierten über das Schicksal Deutschlands bestimmen."


Damit steht erneut ein Unionspolitiker mit einer üblen Bemerkung über Ostdeutschland im Gegenwind. Während sich Schönbohm für seine Äusserung entschuldigt hatte, zeigte sich Stoiber uneinsichtig und setzte mit einem verbalen "Stäuber" sogar noch einen drauf. Er geisselte nochmals die Ossis.

Angela Merkel hat es damit nicht leicht. Dazu kommt, dass sie selbst kaum mehr Versprecher mehr leisten kann. Wer keine Fehler mehr machen darf, ist bekanntlich gefährdet, wiederum Fehler zu machen. Merkel versprach sich denn auch erneut. Es ging um eine Null. Sie sprach bei den Stipendiengebühren von 5'000 Euros, anstatt von 500 Euros. Angela Merkel hat nicht nun nicht nur mit diesem Null Probleme. Sie kann Ihren "Nullen" (Mitstreitern) keinen Maulkorb verpassen.


Reaktionen:
  • Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) nannte Stoibers Äusserung über Ostdeutsche eine peinliche Entgleisung. Stoiber spaltet das Land, erklärte Wowereit. Die Menschen in Ostdeutschland erwarten zu Recht eine Entschuldigung von Stoiber.

  • Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, sagte, die Ostdeutschen seien "keine Bürger zweiter Klasse. Wir haben uns die Demokratie erkämpft, Herr Stoiber hat sie einfach so bekommen. Die Menschen in den neuen Ländern hätten daher ein Recht, als Bürger ernst genommen zu werden.
  • Aus den eigenen Reihen bekam der CSU-Vorsitzende Rückendeckung. Nach Generalsekretär Markus Söder nahm auch der Vorsitzende der Mittelstandsunion, Hans Michelbach (CSU), Stoiber in Schutz: Stoiber sehe in den Ostdeutschen keine Wähler zweiter Klasse, sagte Michelbach. Der CSU-Chef habe mit den Frustrierten nicht die Wähler gemeint, sondern das Linksbündnis von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi.
  • Die Zeit.de berichtet: 'In die Rolle des sanften Kritikers Stoibers und seiner Aussagen zum Wahlverhalten der Ostdeutschen schlüpfte Sachsen-Anhalts Regierungschef Wolfgang Böhmer. Der Professor für Geburtshilfe begab sich am Morgen in einen Interview-Dauer-Einsatz, als gelte es, mehrere Kinder gleichzeitig zur Welt zu bringen. In der von Stoiber geliebten Sport-Sprache stellte er Bayerns Ministerpräsidenten das Attest aus:

    "Im Fussball nennt man so etwas Eigentor."


    Aber: "Wir haben wirklich andere Probleme als uns um Exegese (Auslegung) einiger unglücklicher Formulierungen zu beschäftigen." '
  • Satire: In einem "Grusswort an die Schwesterpartei CSU" fordert der Bundesvorsitzende Martin Sonneborn - nebenberuflich Redakteur der Satirezeitschrift "Titanic" - die Christsozialen auf, "das Fischen in fremden Gewässern" sofort einzustellen. Das Satirewahlkampfplakat der "Partei" sagt: "Wir wollen die Mauer wieder aufbauen". Die "Partei" stelle klar:

    1. Edmund Stoiber ist nicht Mitglied der PARTEI.
    2. Der Wiederaufbau der Mauer, die Errichtung einer Sonderbewirtschaftungszone auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ist die zentrale Position der PARTEI.
    3. Stoibers Stellungnahme zur Teilung Deutschlands in Frustrierte und Nicht-Frustrierte ist nichts weiter als der untaugliche und überaus perfide Versuch, in fremden Gewässern nach Stimmen zu fischen.
    4. Auch in Bayern wird die PARTEI auf dem Wahlzettel stehen. Da mag Herr Stoiber sich winden und wenden wie er mag.





Angela Merkel stand am 11. August zu Gast bei Maybrit Illner in der Sendung "Berlin Mitte" mit Titel "Chefsache Deutschland: Was will Angela Merkel?" 45 Minuten lang live Rede und Antwort. Wir erlebten eine Angela Merkel, die bedacht antwortete, ihre Kernbotschaften zu platzieren verstand und bei allen Versuchen sie aufs Glatteis zu bewegen zurückfand auf eigenes Terrain. Immer kehrte Maybrit Illner zum heissen Thema "Stoibers Ausrutscher" zurück. Immer wieder vermochte sich jedoch Merkel als Kandidatin von Ost und West zu geben. Unionskanzlerkandidatin Angela Merkel hat die Äusserungen von CSU-Chef Edmund Stoiber an Ostdeutschland geschickt (indirekt) kritisiert aber gleichzeitig für Geschlossenheit in der Union geworben. "Alles was dazu beiträgt, ob gewollt oder nicht gewollt, dass Deutschland letztlich eher wieder gespalten wird, als dass wir zur Einheit kommen, ist völlig kontraproduktiv", betonte die CDU-Chefin. Sie bekräftigte, dass sie nach einer gewonnenen Bundestagswahl alle Deutschen vertreten wolle. Wählerbeschimpfung sei das falsche Mittel, kritisierte Merkel. Klugheit sei zwar unter den Menschen, aber nicht regional unterschiedlich verteilt. Stoiber und sie könnten nur gemeinsam gewinnnen, warb Merkel für Geschlossenheit in der Union. Sie habe mit Stoiber bereits "viele Kühe vom Eis geholt". Das gemeinsame Ziel sei, die rot-grüne Bundesregierung abzulösen. Für uns war dies einer der besten Auftritte Merkels. Sie "verkaufte" ihre Kernbotschaft, wiederholte und variierte sie. So wie Schröder bei Christiansen überdurchschnittlich viele Klaquere hatte, so stellten wir auch bei "Berlin Mitte" fest: Merkel wurde vom Applaus getragen. Merkel war "staatsmännisch" gekleidet, sprach natürlich, wirkte konzentriert, keineswegs verkrampft, strahlte Sicherheit aus. Gestik und Stimme bestätigten uns: Merkel war viel entspannter als sonst. Folge: Es kam zu keinen Versprechern. In der Zeitschrift "Super Illu" wollte die ZDF Moderatorin Illner dem öffentlichen Schlagabtausch zwischen Schröder und Merkel nicht viel politische Bedeutung beimessen. Doch glaubt die harte Befragerin an Angela Merkel. "Die TV-Duelle können die Wahlen beeinflussen, aber nicht entscheiden", sagte sie. Die Wähler zögen nicht so kurze Schlüsse. Illner: "Wer sich in einem solchen Duell gut präsentiert, muss noch lange nicht der Mann oder die Frau für die nächsten vier Jahre sein",




Nachtrag vom 13. August, 2005: Weitere unbedachte Äusserungen Stoibers aufgedeckt.

Laut einem Mitschnitt seiner Rede am 5. August, der dem Spiegel vorliegt, berichtete der CSU-Chef von seinen Auftritten in Jena und Eisenach, wo er die Zuhörer gefragt habe:

"Seid ihr euch bewusst: Ihr habt hier Plakate mit Lafontaine. Und der Mann, der im Grunde genommen gegen die Wiedervereinigung war, den feiert ihr jetzt als Helden? Ja, seid ihr denn verrückt geworden? Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber."


Nach einer kleinen Pause, die von Gelächter und Bravo-Rufen gefüllt war, soll Stoiber im bayerischen Deggendorf weiter gesagt haben:

"Ich bin mir nicht ganz sicher, ob alle das auf dem Marktplatz richtig verstanden haben. In Bayern mit Sicherheit."


Ein Sprecher Stoibers hat bestätigt, dass der CSU-Chef mit "Kälber"-Spruch vor der Wahl der Linkspartei gewarnt hat. Diese Worte seien aber kein Angriff auf die Wähler gewesen. Auch der frühere CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauss habe früher in Wahlkämpfen immer wieder das Kälber-Zitat verwendet.

Stoiber glaubt, dass nur mit einem starken Stimmenanteil in Süddeutschland die Union die Bundestagswahl gewonnen werden kann.

Wie zu erwarten war, hatte Gerhard Schröder die Äusserungen von Stoiber als Steilvorlage benutzt und davor gewarnt, im Wahlkampf die Gräben zwischen Ost- und Westdeutschland wieder aufzureissen. Der Bundeskanzler kritisierte in der "Rheinpfalz" auch die umstrittenen Äusserungen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger über die "Frustrierten" und "Mutlosen" in Ostdeutschland. "Diese Art von Wahlkampf ist politisch fatal und menschlich unanständig", sagte Schröder.


Links:


Nachtrag vom 1. September 2005: Doch noch ein zweiter Duell?

Sechs Tage vor der Wahl in Deutschland kommt es nun doch noch zu einem zweiten Aufeinandertreffen von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Herausfordererin Angela Merkel im Fernsehen. Regierungssprecher Bela Anda teilte am Donnerstag mit, der Kanzler werde am 12. September zu einer Diskussion der Spitzenkandidaten in der ARD kommen.


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